Über den/die Autor*in
AlexBitchcraft
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32 Jahre, Trans*, Bisexuell
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Dirty old bitch



Strapse, dicker Bauch, Falten, zu viel Schminke und immer dieser Tonfall eine Oktave höher als ihre tatsächliche Stimme- Marianne ist unübersehbar, jeder kennt sie auf St. Pauli und sie hat mittlerweile Kultstatus. Immerhin ist die Reeperbahn seit mehr als zehn Jahren so etwas wie ihre zweite Heimat. In jeder zweiten Kneipe weiß man ihren Vornamen. Ein Küsschen links, eins rechts und immer diese aufgesetzt gute Laune, immer zu viel Makeup und diese falschen Komplimente. " Gut siehst du aus, um keinen Tag gealtert." Marianne lächelt, setzt sich auf einen der Barhocker und schlägt gekonnt ihre Beine übereinander wie eine Lady, als wüsste sie nicht, dass sie langsam, aber sicher in die Groteske abrutscht. Sie fühlt sich alt und verbraucht, "but the Show must go on".  Ein Prosecco und die Welt sieht ganz anders aus. Zwei und sie glaubt  fast schon wieder an die ganze Chose hier.

Marianne war zwanzig, als sie das erste Mal in dieser Kneipe war. Nebenan ist ein Pornokino. Dort hat sie ihren ersten Freier aufgerissen. Ein junger Asiate. Der Typ war sehr aufgeregt. Er hatte noch nie was mit einem Schwanzmädchen gehabt. Auch Marianne war nervös. Gott, es war so geil gewesen. Heute war alles irgendwie nur noch eine Wiederholung einer Wiederholung einer Wiederholung von etwas, was sie schon tausend Mal erlebt hatte. Es war ermüdend, immer wieder irgendwelchen Typen weißzumachen, wie sehr diese ganze Scheiße sie erregte. Manchmal erwischte sie sich dabei, dass sie während des Koitus anfing, zu gähnen. Über die Steuererklärung und das nicht abbezahlte Haus dachte sie schon länger regelmäßig nach, während irgend so ein zugekokster Spießer ihren Schwanz im Mund hatte. Es wäre zum Totlachen, wenn sie sich nicht schon lange innerlich tot fühlen würde.

Aber gestern war ihr etwas Seltsames passiert. Sie kannte seit ein paar Wochen diese junge Frau, die sich allen Leuten hier nur als "Legion" vorstellte. Auch eine Nutte.
Gestern waren die beiden gemeinsam im Hotel. Sie machten ab und zu Sachen gemeinsam. Dreier waren entspannter. Man konnte sich die Arbeit teilen und es war einfacher, sicher zu gehen, dass der Freier wirklich ein Gummi benutzte. Gestern war eigentlich kein guter Tag, denn alle Freier hatten abgesagt. Die beiden beschlossen, die Arbeit Arbeit sein zu lassen und essen zu gehen. Asiatisch. Während des Essens plauderten sie. Es war ein belangloses Gespräch, bis Legion sie fragte:" Sag Mal, hast du eigentlich noch Träume?". Marianne hatte keine Antwort darauf gefunden. Das war ihr, der geborenen Entertainerin, schon länger nicht mehr passiert. Die Stille nahm Raum ein, aber sie war nicht belastend. Marianne lächelte. Da nahm Legion ihre Hand und bat sie, aufzustehen.

"Tanz mit mir," flüsterte sie. " Es gibt keine Musik," wand Marianne zögernd ein. " Die Musik ist in dir", entgegnete Legion mit einem Lächeln und da war Marianne klar, warum Männer diese junge Frau bezahlten. Sie war unbeschreiblich wertvoll. Sie gab ihr das Gefühl, die einzige Frau auf der Welt zu sein. Marianne fühlte sich jung und begehrenswert, fast schon geliebt. Es fühlte sich echt an, echter als alles, was sie jemals auf St. Pauli gesehen oder erlebt hatte. Marianne hielt Legions Hand und sie tanzten auf der Straße vor dem asiatischen Imbiss. "Hey, ihr müsst noch bezahlen", rief der Kellner erbost, denn er dachte, die beiden wollten doch tatsächlich die Zeche prellen. Marianne legte ihm zu viel Geld auf den Tisch, rief ihm zu, er solle den Rest behalten und sich davon eine neue Hose kaufen, denn seine war wirklich sehr altbacken und abgetragen und dann verließen die beiden Frauen den Imbiss Hand in Hand. Sie tanzten den Weg zurück ins Hotel. Legion küsste Marianne vor allen Leuten im Foyer.

Die Erinnerung allein zeichnet ein Lächeln auf Mariannes bemalte Wangen. Sie verlässt den dreckigen Schuppen, geht ein paar Schritte und setzt sich auf eine strahlend grüne Wiese, um Ketten aus Gänseblümchen zu basteln.

Schöne Story. Das ist (auch) Hamburg. Das ist St.Pauli. Ich liebe es... 👍

11. Jan 2024Antworten
@chilliepepper :)
11. Jan 2024Antworten

Tja, deutsche Provinz und Spießertum gibt es scheinbar auch in Hamburg. Ich finde man sollte Menschen so akzeptieren, wie sie sind und nicht aufgrund irgendwelcher Minderheitenthematiken, weil sie per definitionem "anders sind" überzeichnen. Aber das ist halt so ein Judith Butler Gender Expression Gedächntnisblick, der seine Fans hat und heute Zeitgeist geworden ist. Der aber in sich einen imperialistischen Charakter hat, weil dritte sagen, wie Körper und Menschen sind oder aussehen und dann gedeutet werden: z. B. die "echte" Stimme, das "wahre" Geschlecht. Sexismus im Bett finde ich Ok aber ansonsten hat dieser in meiner Welt jedenfalls nichts verloren. Schön geschrieben aber...

11. Jan 2024Antworten
@MelKingPoint Schön, dass du die Überzeichnung wahrnimmst.
11. Jan 2024Antworten

Ich mags. Ob es eine wahre Geschichte ist? Wer weiß. Aber schön geschrieben, Kompliment!

11. Jan 2024Antworten
@MissNaughtyNextDoor Es ist, wie viele meiner Texte, eine Geschichte knapp neben der Realität.
11. Jan 2024Antworten
@AliceBitchcraft egal ob wahr oder nicht, deine Texte sind hervorragend geschrieben. St.Pauli eine eigene Welt....Hamburg ist eine wunderschöne Stadt *träum* Bin gespannt auf dein nächsten Blog
11. Jan 2024Antworten
@HotAsiaKoeln Dankeschön 😊
11. Jan 2024Antworten

Und wieder kommt auch in dieser Geschichte, die toll geschrieben ist, zum Ausdruck, der Mensch macht den Unterschied, idem er so ist, wie er ist, völlig belanglos, welchen Chromosomensatz er nun trägt. Wer so schreibt, hat die Gabe, Menschen und Situationen auf eine ganz besondere Art und Weise wahrzunehmen und auf ihre Entwicklung und den Moment einen positiven Einfluß zu nehmen. Schön, dass es deine Sichtweise gibt und das du sie mit uns teilst. Deine tiefgründigen Gedanken, feinsinnigen Beobachtungen und empathischen Handlungsweisen sind Gold in dieser von Leistung, Egozentrik und Oberflächlichkeit viel zu oft überschwemmten Zeit. Danke!

11. Jan 2024Antworten
@Platon8 Dankeschön
11. Jan 2024Antworten

Sehr schön geschrieben, Alice - man fühlt sich direkt in diese Szenerie herein versetzt. Tja, Hamburg und insbesondere St.Pauli haben schon Ihr eigenes Flair. Hoffen wir, dass es noch lange so bleibt. Danke für diesen tollen Blog.

11. Jan 2024Antworten

Knapp neben der Realität, aber ganz poetisch. Die Welt muss so gezeichnet werden, damit wir sie verstehen können.

13. Jan 2024Antworten
@Massel <3
13. Jan 2024Antworten

Eine Geschichte ist immer "überzeichnet", sonst wäre es keine Geschichte, sondern ganz alltäglich. Wobei es da auch einige Geschichten gibt, die durch ihre Gewöhnlichkeit überzeichnen. Die Kunst bei dieser Geschichte, ist doch aber, nicht zu überzeichnen damit es schneller, höher, härter wird, sondern damit ein wenig klarer wird, wie weit wir schon von uns selbst entfernt leben und wie leicht wir wieder zurück finden können. Wenn wir nur ein paar Kleinigkeiten verändern, ausbrechen, uns neu erfinden, orientieren, zurücknehmen, oder einfach nur damit aufhören uns immer so ernst und wichtig zu nehmen. Ich finde die Geschichte fein, sie passt überhaupt nicht zum P6.

14. Jan 2024Antworten
@Auxilius Warum?
14. Jan 2024Antworten

Die menschliche Seite von P6, ist vielleicht nicht werbewirksam genug. Der ein oder andere Marketingprozess wird auch nicht stimmig ausfallen. Aber in den meisten Fällen wird P6 doch mehr aus einer anderen Sicht betrachtet. Aus einer jugendlichen und möglichst knackigen Sicht, auf keinen Fall aus einer nachdenklichen. Die Ketten aus Gänseblümchen, finde ich persönlich, etwas zu viel.

14. Jan 2024Antworten
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