Strapse, dicker Bauch, Falten, zu viel Schminke und immer dieser Tonfall eine Oktave höher als ihre tatsächliche Stimme- Marianne ist unübersehbar, jeder kennt sie auf St. Pauli und sie hat mittlerweile Kultstatus. Immerhin ist die Reeperbahn seit mehr als zehn Jahren so etwas wie ihre zweite Heimat. In jeder zweiten Kneipe weiß man ihren Vornamen. Ein Küsschen links, eins rechts und immer diese aufgesetzt gute Laune, immer zu viel Makeup und diese falschen Komplimente. " Gut siehst du aus, um keinen Tag gealtert." Marianne lächelt, setzt sich auf einen der Barhocker und schlägt gekonnt ihre Beine übereinander wie eine Lady, als wüsste sie nicht, dass sie langsam, aber sicher in die Groteske abrutscht. Sie fühlt sich alt und verbraucht, "but the Show must go on". Ein Prosecco und die Welt sieht ganz anders aus. Zwei und sie glaubt fast schon wieder an die ganze Chose hier.
Marianne war zwanzig, als sie das erste Mal in dieser Kneipe war. Nebenan ist ein Pornokino. Dort hat sie ihren ersten Freier aufgerissen. Ein junger Asiate. Der Typ war sehr aufgeregt. Er hatte noch nie was mit einem Schwanzmädchen gehabt. Auch Marianne war nervös. Gott, es war so geil gewesen. Heute war alles irgendwie nur noch eine Wiederholung einer Wiederholung einer Wiederholung von etwas, was sie schon tausend Mal erlebt hatte. Es war ermüdend, immer wieder irgendwelchen Typen weißzumachen, wie sehr diese ganze Scheiße sie erregte. Manchmal erwischte sie sich dabei, dass sie während des Koitus anfing, zu gähnen. Über die Steuererklärung und das nicht abbezahlte Haus dachte sie schon länger regelmäßig nach, während irgend so ein zugekokster Spießer ihren Schwanz im Mund hatte. Es wäre zum Totlachen, wenn sie sich nicht schon lange innerlich tot fühlen würde.
Aber gestern war ihr etwas Seltsames passiert. Sie kannte seit ein paar Wochen diese junge Frau, die sich allen Leuten hier nur als "Legion" vorstellte. Auch eine Nutte.
Gestern waren die beiden gemeinsam im Hotel. Sie machten ab und zu Sachen gemeinsam. Dreier waren entspannter. Man konnte sich die Arbeit teilen und es war einfacher, sicher zu gehen, dass der Freier wirklich ein Gummi benutzte. Gestern war eigentlich kein guter Tag, denn alle Freier hatten abgesagt. Die beiden beschlossen, die Arbeit Arbeit sein zu lassen und essen zu gehen. Asiatisch. Während des Essens plauderten sie. Es war ein belangloses Gespräch, bis Legion sie fragte:" Sag Mal, hast du eigentlich noch Träume?". Marianne hatte keine Antwort darauf gefunden. Das war ihr, der geborenen Entertainerin, schon länger nicht mehr passiert. Die Stille nahm Raum ein, aber sie war nicht belastend. Marianne lächelte. Da nahm Legion ihre Hand und bat sie, aufzustehen.
"Tanz mit mir," flüsterte sie. " Es gibt keine Musik," wand Marianne zögernd ein. " Die Musik ist in dir", entgegnete Legion mit einem Lächeln und da war Marianne klar, warum Männer diese junge Frau bezahlten. Sie war unbeschreiblich wertvoll. Sie gab ihr das Gefühl, die einzige Frau auf der Welt zu sein. Marianne fühlte sich jung und begehrenswert, fast schon geliebt. Es fühlte sich echt an, echter als alles, was sie jemals auf St. Pauli gesehen oder erlebt hatte. Marianne hielt Legions Hand und sie tanzten auf der Straße vor dem asiatischen Imbiss. "Hey, ihr müsst noch bezahlen", rief der Kellner erbost, denn er dachte, die beiden wollten doch tatsächlich die Zeche prellen. Marianne legte ihm zu viel Geld auf den Tisch, rief ihm zu, er solle den Rest behalten und sich davon eine neue Hose kaufen, denn seine war wirklich sehr altbacken und abgetragen und dann verließen die beiden Frauen den Imbiss Hand in Hand. Sie tanzten den Weg zurück ins Hotel. Legion küsste Marianne vor allen Leuten im Foyer.
Die Erinnerung allein zeichnet ein Lächeln auf Mariannes bemalte Wangen. Sie verlässt den dreckigen Schuppen, geht ein paar Schritte und setzt sich auf eine strahlend grüne Wiese, um Ketten aus Gänseblümchen zu basteln.