Der Kuss im Paysex: Im Schauspiel gibt es keinen echten Kuss
Kaum eine Frage steht beim Fremdblick des nicht betroffenen Betrachters so plakativ für das Schaudern und die Abneigung gegenüber Paysex wie das Bejahen eines Kusses im käuflichen Sex. Wenn Liebe Respekt verdient, sogenannte wahre Gefühle über jeden Einwand im Heute erhaben sein sollen und ein Kuss die Allianz zweier Menschen nach Außen besiegelt, dann obsiegt in der Fremdbetrachtung gegenüber Menschen in Sexarbeit oft die Moral von gestern. Im Sinne ihrer Gegner ist Paysex keine legitime Zweisamkeit. Frauen in Sexarbeit müssen sich regelmäßig verstecken und verleugnen. Selbst wenn es dann doch Liebe sein könnte, wie in „Pretty Woman“, wird auch hier nicht zuletzt der Kuss angezweifelt, weil Menschen nur oberflächlich und in fest umrissenen Bahnen Toleranz gegenüber anderen erkennen lassen, wo die Sexarbeiterin im Abseits stecken bleibt.
In den meisten legitimen Beziehungen, die nach wenigen Monaten oder Jahren komplett erkalten und wo die größten Liebespaare von gestern, besiegelt vom Standesamt, heute wie in einer WG zusammen leben oder sich längst ehrlich verachten, kann der Kuss des Gatten mit einer anderen, die von ihm nicht als Erbin eingesetzt wurde, sondern minütlich unverbindlich bezahlt wird, nur eine falsche Art des Zusammenschlusses darstellen. Die Verachtung richtet sich nicht primär gegen den käuflichen Sex oder die Bezahlung für das Zusammensein an sich: Nein, es ist der Kuss, der mit Abscheu und Argwohn bedacht wird.
Aber was ist eigentlich der Kuss? Der Kuss ist gleichbedeutend mit einem momentanen, spontanen Gefühl, das nur echt sein kann, selbst im Paysex, wenn man sich berührt. Ein Kuss ist ein Kuss, Lippen sind Lippen, ein Hauch wie Schmelz, wenn sich zwei Lippen berühren und zwei Menschen einander zuwenden und angenommen fühlen. Ich glaube nicht, dass der Kuss im Paysex eine bezahlbare Größe ist, weil man den Kuss nicht wirklich spielen oder in Zahlen ausdrücken kann. Im Schauspiel gibt es keinen echten Kuss. Theater ist es, wenn man einen Kuss spielt oder andeutet. Gefühle sind subjektiv und persönlich, und jeder kann nur selbst entscheiden, ob er oder sie bereit ist für einen Kuss und sich zu fühlen. Wenn Küsse so einfach käuflich wären, dann gäbe es Escorts, die nur Küssen anbieten – das ist aber selten. Trotzdem gibt es aber den Kuss im Paysex und vielleicht ist dieser eine ehrliche Momentaufnahme.
So ist es auch in meinem Fall. Ich finde, ein Kuss ist ehrlicher als viele Worte. Wenn mein Gegenüber im Paysex glaubt, ich küsse ihn, weil er mich dafür bezahlt hat, dann kann der Kuss entweder nicht ehrlich gewesen sein oder mein Gegenüber hat ein Wahrnehmungsproblem.
Einen echten Kuss kann man genauso wenig spielen wie den männlichen Orgasmus. Und das gilt auch für den Paysex. Vielleicht wäre es eine andere Frage, ob der Kuss vor dem eigentlichen Paysex kommt und von diesem unabhängig stattfindet? Oder gilt das am Ende für Sex per se? Manche Männer glauben ja, sie bezahlen für Sex, aber das könnte ebenso ein Irrtum sein. Sie könnten ja auch annehmen, sie bezahlen für das gesprochene Wort im Paysex. Fragen über Fragen. In Wahrheit bilden Menschen, auch in der Sexarbeit die Wirklichkeit einer zwischenmenschlichen Bandbreite ab, in der ein Kuss einen beliebigen Teil darstellen kann, der sich echt anfühlen muss und in Wahrheit unbezahlbar ist.