Fünf Grad, es ist Samstagnachmittag, die Sonne bricht hervor und du weißt, es ist Zeit für schwarzes Leder. Es war nur ein Bild in einem Internetforum und ein paar wenige Zeilen. Jetzt bist du auf dem Weg zu ihr. Sie weiß nicht, dass sie auf deine Flügel aus Fantasie gezeigt hat und du in deinem Hinterkopf ihre Stimme gehört hast: Warum fliegst Du nicht ein paar Stunden mit mir?
Für sie ist es nur ein Geschäft, für dich sind es Flammenzeichen. Du hast sie lodern sehen und wünschst doch, es nicht getan zu haben. Denn du hast dir die Krücken "Disziplin" und "Berechenbarkeit" zugelegt und auch noch das Korsett "Verlässlichkeit" angezogen, bis du dich keinen Millimeter mehr bewegen konntest außer mit gesenktem Kopf in der vorgezeichneten Richtung, in der auch alle anderen marschierten. Du hast dich angepasst.
Doch jetzt bist du angepisst. Von dir selbst. Weil du gelächelt hast, wo du hättest die Zähne zeigen müssen; die Hand gereicht hast, wo du sie hättest ballen müssen und dich an der Tischplatte festgekrallt hast, als du hättest zuschlagen müssen.
Endlich freie Fahrt. Es ist die Straße nach Wismar. Winterkahle Bäume en vorbei, die in ein paar Monaten wieder grün sein werden wie auch links und rechts gelb der Raps leuchten wird. Vor dir ist ein LKW. Links raus … Lichthupe von vorne … uups … das wird knapp … Gas! … und sie ist da, die Maschine unter dir. Kurz lüftet sie das Vorderrad, zieht an, schert wieder ein und der Gegenverkehr t vorbei. Sie ist da, wenn du sie brauchst, und lässt dich nicht hängen, wenn es eng wird. Das hat sie noch nie getan, sie ist kein Mensch. Kai Tracid in den Beats und du fährst langsamer, damit du den Text verstehst: Life is too short, as precious as gold, it’s full of surprises, so i am told.
Der große Kreisverkehr in Wismar. Kein Auto drin? Geil! Faster von Within Tempation lässt deine Helmschale dröhnen: I’m alive, I’m breaking out. Zweiter Gang und Gas, noch mehr Gas, Anschlag! Die Fußraste schlägt Funken auf dem Asphalt, wie ein Westernreiter hängst du links neben der Maschine und der Knieschoner fängt sich neue Schrammen ein. Eine volle Runde und dann noch eine und irgendetwas in dir schreit: Mann, du bist fast sechzig!
„Und was?!“, brüllst du zurück.
Wenig später sind sie da, die schönste Straße des Nordens und dein Lachen. Von Wismar nach Neubukow, am Salzhaff entlang, voller Kurven und sonnendurchfluteter Alleen. Malerische Dörfer fliegen an dir vorbei, du erreichst das Meer und jetzt endlich kannst du atmen … atmen … atmen … Es ist dieser Platz, an dem den Helm abzunehmen schon fast eine so heilige Handlung ist wie das Bekreuzigen beim Gang durch ein Kirchenportal.
Das hier ist deine Kirche. Die Handschuhe aus und die Beats aus den Ohren. Die Musik, die du jetzt hören willst, ist eine andere.
Nur ein paar Schritte sind es bis ans Wasser, der Sand knirscht unter deinen Stiefeln und du setzt dich in den Schneidersitz; legst die Hände auf die Knie, formst mit Mittelfinger und Daumen einen Kreis, schließt die Augen und lässt deinen Kopf nach vorne sinken. Nur noch du, der Wind, das Meer, seine Wellen und ihr leises en sind bei dir. Ihr gehört zusammen: die Erde, das Wasser, die Luft und das Feuer in dir.
Es lodert wieder und es ist ihre Antwort, die es entzündet hat. Sehnsucht nach Verbotenem atmete sie, nach Hemmungslosem und der Lust auf eine Nacht. Nur diese Eine und das kleine grüne Männchen in deinem Hinterkopf lacht sich einen Ast: Es ist nur ein Geschäft, du Idiot!
Natürlich ist es das. Du weißt das und du akzeptierst das. Sex ist die . Nichts hören, nichts sehen, nichts denken, nur noch fühlen und berühren. Vielleicht sind die Geister in dir nie zum Schweigen zu bringen, schließlich bist du ein Mann. Doch ein einziger Moment der vollkommenen Stille in dir wird dich den Menschen wiederfinden lassen, der du einmal warst. Vielleicht ...
Du setzt den Helm auf. Es ist Zeit.
wird fortgesetzt ...