Die Wahrheit liegt wohl wie immer in der Mitte. Denn zwischen freiwilliger und selbstbestimmter Prostitution auf der einen Seite sowie Ausbeutung und Zwang auf der anderen liegt offenbar ein Graubereich, wo die Lebensrealität der meisten Sexworker angesiedelt ist.
Vielen Prostituierten ist die Zwangslage, in der sie stecken, häufig kaum bewusst. Für viele ist es normal, auf Druck der Familien oder Freunde in der Sexarbeit zu arbeiten und entsprechend Geld für andere anzuschaffen. Der Zwang darin ist jedoch äußerlich schwierig zu erkennen. Viele Sexworker mit Loverboys schaffen nach ihrem Selbstverständnis und laut eigenen Aussagen ja freiwillig an.
Was die Sexarbeiterinnen in diesem Buch zu berichten haben, geht unter die Haut. Um es klar zu sagen: hier ist nicht von der sex positiven und selbstbewußten Sexarbeiterin die Rede, die in der Sexarbeit ihr Glück und ihre Bestimmung gefunden hat und die immer öffentlich betont, wieviel Spass ihr der Job macht.
Das Bild, das hier gezeichnet wird, deckt sich durchaus mit den Erfahrungen der Rezensentin. Wobei eigene Erfahrungen in der Sexarbeit in Europa und der Schweiz, viele Gespräche mit Sexarbeitenden in Europa die Grundlage einer umfassenden Meinungsbildung sind.
Aber die Journalistin interessiert sich für die persönliche Situation der Sexarbeitenden, die ihr auch bereitwillig Auskunft geben, nachdem Aline Wüst über einen langen Zeitraum ein Vertrauensverhältnis zu vielen Prostituierten im Bordell aufbauen konnte. Offenbar bewegt sich die Lebensrealität der hier portraitierten Sexarbeiterinnen zwischen Zwang und freiem Willen irgendwo dazwischen. Hier gibt es kein Verständnis für feministische Diskurse und Debatten um Selbstbestimmung im Sexgewerbe. Das ist eine andere Welt der Bildung und Akademie, wovon die meisten Sexworker im täglichen Leben ausgeschlossen sind.
Dies ist eine andere Perspektive als Verbände und Lobbygruppen für die Sexarbeit immer betonen: dass man nämlich zwischen Sexarbeit und Menschenhandel strikt trennen muß. Gibt es diese eindeutige und klare Trennlinie in der Realität, die durch strukturelle Gewalt wie Armut geprägt ist?
Andere betonen, dass die Kontrolle über Sexarbeiter:innen bereits durch Betreiber:innen und sog. Kapo-Frauen (das sind aktive Prostituierte, die an der Sexarbeit anderer profitieren) sowie dritte Personen stattfindet. Die Frage ist, inwieweit vom Idealbild „Freiwilligkeit und Selbstbestimmung“ hier gesprochen werden kann. Aber es ist sinnvoll, sich selber zum Buch eine Meinung zu bilden und die Berichte und Protokolle zu lesen, um einen Blick auf die Welt der Sexarbeit in der Schweiz zu werfen.
Zum Schluß wird der Kampf um Deutungshoheit der Sexwork positiven Verbände kritisch reflektiert, die betonen, dass es eine strikte Trennung zwischen Sexarbeit und Menschenhandel gibt und man deshalb über die Opfer nicht reden muß. Dies festigt allerdings die polarisierenden Diskussionen und erzeugt keine weiterführenden Perspektiven in der Debatte.
.Es ist lohnenswerte Lektüre für jene, die sich mit den Realitäten normaler Sexarbeiter:innen in der Schweiz beschäftigen möchten. Schließlich hat die Journalistin Aline Wüst mehrere Jahre gründlich recherchiert, in der Schweiz und Osteuropa.
Bezugsquelle: Aline Wüst: Piff, Paff, Puff - Prostitution in der Schweiz, Echtzeit Verlag 2020
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