Und so stand ich auf und ließ Judith mit ihrer Freundin sitzen. Ich verabschiedete mich höflich von ihr und ging. Judith Steinert, war eine blonde, zierliche Frau, die seit kurzem als Europasekretärin beim Daimler arbeitete. Die Uhr an der Wand schlug auf halb zwölf. Ich befand mich in der Traube, eine Bar, in der Altstadt von Sindelfingen, umgeben von Fachwerkhäusern.
Die Gelassenheit habe ich Nicky zu verdanken. Ob sie wirklich so heisst, oder ob sie den Namen tragen musste werde ich nie erfahren. Aber es ist mir egal. Es ist mir auch egal, was für Geheimnisse sie sonst noch mir gegenüber hatte. Sie hatte mich auf ihrer Art selbstbewusster gemacht. Dieses neue Selbstbewusstsein habe ich von einer Frau bekommen, von der man alles Mögliche erwartet hätte, aber bloß keine aufmunternden Worte.
Und was Martina Lechmann angeht: Da weiß ich nicht ob ich je mit ihr über die Vergangenheit reden soll. Nicky hatte mir da auch keinen Rat geben können. Konnte mir da überhaupt Jemand sagen, was da die richtige Lösung wäre?
Und so streifte ich durch die Altstadt Sindelfingens, zwischen den Fachwerkhäusern hindurch. Der Himmel war bedeckt und ich sah eine halbe weise Mondsichel durch ein Loch in den Wolken scheinen. Die Erinnerungen an Nicky, und an das was sie für mich getan hatte, kamen mir wieder hoch.
Alles begann im Februar, vor zwei Jahren. Ich stand vor dem Erospark Sindelfingen. Von einem befreundeten Taxifahrer hatte ich gehört, dass es früher zwei kleine Bordelle gewesen waren, die zu einem großen geworden waren. Links vom Erospark ragten die grauen, riesigen Fabrikgebäude des Daimlers hoch. Rechts waren weitere Fabrikanlagen und ein kleiner, weisser Imbißstand, an dem gebratene Hähnchen verkauft wurde. Der Erospark ist in drei Gebäude aufgeteilt, die zusammen die Form eines eckigen Us ergeben. Es gibt das Gebäude A, in der Mitte B und das Gebäude C. So ist die offizielle Aufteilung der Erosparks. Auf dem Parkplatz, vor dem gläsernen und automatischen Eingang, stand ein dunkelblaues Auto, mit der roten Schrift „Erospark“ und der weissen Silhouette eines erotischen Frauenkörpers. Hinter mir war die rotorange gestreifte Wand des Hornbachs.
Mit einem klopfenden Herzen ging ich auf die Glastür zu, die sich automatisch öffnete. Links neben der Glastür, auf der Glasfront, standen die Öffnungszeiten des Erosparks, in weißer Schrift.
Was zum Henker mache ich hier?“ fragte ich mich. Es war überflüssig, dass ich mich das selbst fragte. Mutter Natur hatte mich hier her geführt. Das kommt davon, wenn man die Erotikfilme Freitags Nachts auf Kabel1 anschaute. Man kommt auf dumme Gedanken und schwups war man im Erospark.
Beim Laufen schleife ich mein linkes Bein nach. Der linke Turnschuh war vorne schon abgewätzt. Mein linker Arm ist angewinkelt und gelähmt. Ich bin halbseitig gelähmt. Der Arzt hatte mich bei der Geburt mit der Zange aus der Gebärmutter holen müssen. Damals waren Nervenstränge beschädigt worden, die für die linke Körperhälfte zuständig sind. Und deshalb bin ich halbseitig gelähmt.
Ein grauhaariger, aufgepumpter Bodybuilder, in einer blauen Jeans und einem grauen T-Shirt, kam aus dem Gebäude gestürmt. Sein faltiges Gesicht hatte eine leicht rötliche Farbe. Über seinem T-Shirt trug er eine schwarze Winterjacke. Die Ärmel waren hochgekrämpelt. Er musste irgendwo hin. Er machte kurz halt und fragte:“ Hey, brauchst du Hilfe?“ Ich sah, wie die Adern aus seinen Unterarmen herausquollen. Sie sprangen mir schon fast ins Gesicht.
„Nein danke. Ich habe eine Frage,“ erwiderte ich.
„Ja und welche?“
„Sind da Leute, die mir eventuell gefährlich werden können. Du weißt schon, irgendwelche Zuhälter, oder so?“ Da dieser Mann mich geduzt hatte, nahm ich an, ich könnte ihn auch duzen. Der Bodybuilder schüttelte den Kopf.
„Nee, hier geht´s eigentlich ruhig zu. Vor ein paar Wochen hatten wir hier einen, der besoffen die Mädchen angemacht hat. War zwar ein bisschen nervig, aber sonst ist es hier friedlich. Du, ich muß jetzt weiter. Brauchst du wirklich keine Hilfe? Vor kurzem hatten wir einen Rollstuhlfahrer hier. Wir haben ihn zu zweit durchs ganze Haus getragen. Leider gib’s hier keinen Aufzug.“
„Nein danke.“ Der Bodybuilder eilte in einem schnellen Schritt weiter. Ich schätzte ihn zwischen fünfundvierzig und fünfzig ein.
Ich betrat den Erospark. Drinnen waren die Wände rot und der Boden bestand aus grauen Platten. Rechts ging es am Büro vorbei in einen Raum, in dem eine Bar war. Er war mit ultramodernen, quadratischen Barhockern und Tische ausgestattet. Durch die Beleuchtung hatte er einen Blaustich. Ich befand mich in einem Gang, der rot beleuchtet war. Und so startete ich meine Entdeckungstour durch den Erospark.
Sehr schnell stellte ich fest, dass der Erospark eine mulitkulturelle Einrichtung war. Ich traf Frauen aus allen Teilen der Erde, aus Mexico, Ungarn, Russland Thailand
usw. Aus manchen Zimmern strömte der Duft von asiatischen Essen. Es roch mitten im Puff nach Basmatireis. Ich kam mir vor, als hätte ich mich ausersehen in einem chinesischen Restaurant verirrt. Aus einigen Zimmern ertönte spanische oder türkische Musik. Ich beobachtete, wie sich einige Damen die Fußnägel lackierten. Jede wollte, daß ich zu ihnen, für fünfzig Euro reinkomme. Doch ich wollte nicht. Ich wollte mich nur umschauen. Es gab eine sehr nette Thailänderin. Sie hieß Ducky. Sie war besorgt um mich und füllte mich mit Bonbons ab.
Schließlich gelangte ich an eine Frau, da wusste ich, dass ich dieser Frau nicht widerstehen konnte. Ich kam zu einem Zimmer, im ersten Stock, das in einem rechten Winkel, neben der Treppe lag. Die Tür war von einer roten Lichterkette eingerahmt. Und auf der Tür stand C217. Ich schaute hinein. In dem Zimmer bastelte eine kleine Frau mit brünetter Haut, pechschwarzen, glatten Haaren und kastanien-braunen Augen an ihrer Stereoanlage herum. Das schöne Gesicht dieser jungen Frau haute mich in diesem Augenblick fast aus den Socken.
Auch eine blonde Frau befand sich in dem Zimmer. Für meinen Geschmack hatte die blonde Frau eine zu grosse Oberweite. Es sah etwas unproportioniert aus, zu ihren dünnen und kurzen Beine. Ihre hellblonden Haare waren gelockt. Ihr Mund war breit, und sie hatte einen Spalt der Mitte der vorderen Zahnreihe. Und am Rücken, knapp über dem Po, war sie mit einem bunten drachenförmigem Muster tätowiert. Auf mich wirkte sie wie ein Playmate Model.
Mein Blick wanderte wieder zu der Schwarzhaarigen. Sie war wunderschön. Es war als hätte sich einer der schönsten Perlen des Orients in diesem Bordell verirrt. Ich stellte sie mir als Bauchtänzerin in einem indischen Palast, auf einem orientalischen Teppich, mit Musik aus Tausend und einer Nacht im Hintergrund, vor.
Ich schaute auf das Schild, das auf der Tür war. Der Name Nicky stand da drauf. Eine Frau, in Reizwäsche, war mittels Wordart unter dem Namen angebracht worden. Die schwarzhaarige Frau drehte ihr jugendliches Gesicht zu mir, und schenkte mir ein selbstbewusstes und leicht freches Lächeln. Ihre Augen lagen in Höhlen. Über ihren kleinen runden Brüsten lag ein blauer BH, der einen weißen Rand hatte. Das Blau ihres BH´s hob sich von ihrer brünetten Hautfarbe ab. Sie stand auf. Sie war einen Kopf kleiner als ich.
„Hallo, na bist du neugierig?“ sagte sie mit einem starken ausländischen Akzent.
Ich lehnte mich an den Rahmen der Tür und dachte nur:“ Wow, hat diese Frau ein
wunderschönes Gesicht.“
„Wer von euch ist Nicky?“ ich deutete mit dem Finger auf das Namensschild an der Tür.
„Ich, ich bin Nicky und das ist meine Freundin Diana.“ Sie deutete auf die blonde Frau, die Pamela Andersons jüngere Schwester sein könnte. Ich bin gewiß kein Fan von Pamela Anderson. Aber irgendwie erinnerte sie mich ein bisschen an sie.
„Wie heisst du?“ fragte sie.
„Ich heisse Michael,“ sagte ich.
„Du komm später wieder. ja Diana und ich wir müssen das hier reparieren.“
„Garantiert,“ sagte ich und ging. Von ihrer Schönheit war ich überwältigt. In diesem Moment wusste ich, dass es für mich unmöglich gewesen wäre dieser Frau zu widerstehen. Es wäre so als würde man verhindern wollen, dass die Sonne unter beziehungsweise aufging. Selbst wenn ich mit Martina tatsächlich zusammen-gekommen wäre hätte ich nicht dafür garantieren können, dass ich der Frau wider-stehen könnte. Kurz dachte ich wieder an Martina. Wenn die Geschichte mit Martina anders gelaufen wäre, wäre ich jetzt bestimmt nicht hier hergekommen. Obwohl, wer weiß? Beim laufen merkte ich, wie mein Herz schwer wurde. Ich dachte kurz an Martina. Innerlich seufzte ich:“ Ich hätte Benjamin heissen und Maler werden sollen.“
Der Blick auf zwei runde symmetrischen Pobachen und den schwingenden Hüften, die einer braunhaarigen Italienerin gehörten, heilten mich von meinen melanch-olischen, selbstbemitleidenten Gedanken. Ich hörte wie Stöckelschuhe auf dem Plattenboden hallten und sich Stimmen in ausländischer Sprache unterhielten. Es heisst doch, dass Männer in Gegenwart von hübschen Frauen ihr Gehirn ausschaltet. Das konnte ich nur bestätigen.
Und so schlenderte ich weiter durch den Erospark. Einige Damen schauten gelang-weilt in den Fernseher. Manche Frauen konnten gar nicht mit meiner Behinderung umgehen. Sie schauten mich dumm an und scheuchten mich weg.
Später machte ich mich wieder auf den Weg zu Nicky. Mit ihrer rechten Schulter lehnte sie an dem Türrahmen. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Zigarette. Als ich vor ihr stand, merkte ich, dass ich das Gleichgewicht verlor. Sie stützte mich dass ich
nicht hinfiel.
„Du musst aufpassen,“ sagte sie in einem besorgten, fast mütterlichen Ton.
„Danke,“ sagte ich. Und als ich mich wieder gefangen hatte, fragte ich sie:“ aus welchem Land kommst du?“ fragte ich.
„Aus der Tschechai. Und du wohnst hier.
„Ja, ich wohne in der Altstadt und arbeite im Breunninger, in der Verwaltung. In Ludwigsburg, im Körperbehindertenzentrum, Auf der Karlshöhe, habe ich meine Ausbildung zum Bürokaufmann gemacht.“
„Breuninger ist gut. Es gibt viele schöne Sachen dort. Schicke Kleider und schicke Schuhe. Und du bist das erste Mal hier im Puff?“
Ich nickte.
„Bestimmt hast du dich verlaufen und wolltest eigentlich ins Bett gehen und hast dich in der Adresse geirrt,“ sagte Nicky mit einem Lächeln. Dabei zwinkerte sie mir zu. Als ihr Lachen auf ihrem Gesicht erschien, merkte ich, dass ich richtig schwach wurde.
Ich merkte, dass Nicky Spaß haben wollte und offenbar eine Frau mit Humor war. Und so beschloß ich ihr eine Kostprobe meines Humors zu geben und sagte:“ stimmt nicht ganz. Ich wollte eigentlich den Sindelfinger Kirchenchor besuchen und hab´ mich in der Hausnummer geirrt.“ Unterbewußt wollte ich ihr imponieren, wie allen Frauen, die ich attraktiv fand. Ich hatte gemerkt wie ihre Lockerheit und ihr Humor mich ansteckte. An ihrem Gesicht sah ich, dass sie meinen Scherz nicht verstanden hatte. Vielleicht wusste sie nicht was ein Kirchenchor ist. Das mit der deutsch – tschechischen Konversation musste noch geübt werden. Ich merkte, dass ich mich genierte und dass dadurch mein Gesicht wärmer, und wahrscheinlich auch rot wurde.
„Wie lange muß du noch arbeiten?“ fragte ich sie.
Ich wollte sie von meinem missglückten Witz ablenken.
„Bis vier, wenn ich Glück hab bis drei. Mal sehen. So Michael. Ich muß weiterarbeiten sonst bekomme ich Schwierigkeiten.“ Ich merkte, dass sich in der stickigen Luft ein süsslicher chemische Geruch ausgebreitet hatte. Ncky griff nach einer silbernen blauen Dose, die neben der Tür stand. Als sie die Dose zum Mund führte, erkannte ich, dass es eine Redbulldose war. Wahrscheinlich stammte der süsslich chemische Geruch daher.
Nicky setzte die Dose ab und sagte:“ Dieses Zeug hält fit für Bettgymnastik.“ Ihre Hüfte schwang sie hin und her, um mir zu verdeutlichen, welche Art von Gymnastik
sie meinte.
„Okay, ich gehe, mach´s gut“ sagte ich.
„Du auch. Pass gut auf dich auf,“ sagte Nicky in einem kameradschaftlichen Ton.
Ich ging die Treppe runter und schaute zurück. Sie lächelte mir entgegen.
„Fall nicht. Tschau.“
„Tschau,“ Ich ging weiter die Stufen runter. Mann, was das eine Frau. Dass sie eine Prostituierte, und für manche Männer bloß ein Spielzeug war, hatte ich irgendwie verdrängt.
Meine Wohnung lag in der Sindelfinger Altstadt, in einem Fachwerkhaus in der Nähe meines Stammcáfes. Ich teilte sie mit einem der beim Ikea arbeitete. Mein Verwaltungsjob beim Breuninger war zwar nicht der absolute Hit, aber es ging.
Ich lief am s´Cafe vorbei. Hier hängen hauptsächlich Daimlerarbeiter und Mitarbeiter von Athos herum. Athos ist eine Softwarefirma, die sich auf die Abfallwirtschaft spezialisiert hat. Man kann sagen, dass ein Großteil der Stammgäste des Cáfes Fabrikarbeiter sind.
Mein Blick fiel durch ein Fenster auf ein viereckigen Tisch. Im Geist sah ich meinen Kumpel Dirk vor mir.
„Was willsch machen,“ hörte ich seinen schwäbischen Akzent in meinem Kopf.
„Du kannsch sie zu nix zwinge. Was glaubscht du was passiert wenn du Martina alles sagst, was Benjamin dir gesagt hat. Denkst du sie verlässt ihn für dich. Hey, ich geb´ dir an Tipp als Kumpel, werf´ die Adresse weg und vergiß sie. Du muß an dich denken, sonst gesch du hee. Ich hab dir gesagt, wie Frauen denken. Martina würde es dir nie offen sagen, wie ich es dir eben. Aber vergiß die Frau. Und sag ihr bloß nicht, was Benjamin dir gesagt hat sonst ist der Deifel los. Wenn du´s ihr sagst, verlierst du sie womöglich als Freundin.“
Ich dachte wieder:“ ich hätte Benjamin heissen und Maler werden sollen.“
Mein Mitbewohner Florian klopfte mir auf die Schulter. Ich zuckte zusammen.
„Hey Michael, wo warst du,“
„Im Stadtpark,“ log ich, aber nur halb. Denn das mit dem „Park“ hatte ja gestimmt.
„Du, Luis, Matze und Nico wollen nachher vorbeikommen und mit uns DVD gucken.“
Mein Mitbewohner hatte eine leichte Spastik. Zu uns kommt zwei Mal die Woche ein Betreuer, den wir vom Persönlichen Budget bezahlen.
Wir gingen wieder zu unserer Wohnung. Ich ersetzte diese Erinnerung an das
Gespräch über Martina durch die Erinnerung an die orientalische Schönheit Nicky und merkte, dass es mir schon bald besser ging.
Vor vielen Jahren hatte ich Martina Lechmann auf einer Faschingsparty im s´ Café kennengelernt. Das ganze s´Cafe war voller Luftballoon und Konfettis. Draussen war schon die Nacht hereingebrochen. Eine dünne Schneeschicht lag auf den Strassen und Gehwegen Sindelfingens Alle möglichen Gestalten begegneten einem an diesem Abend. Angefangen von der Mumie, die in Toilettenpapier eingewickelt war, über Cowboys bis hin zu Vampiren über Transen in Strapsen und Strumpfhosen.
Martina war an diesem Abend als Vampir verkleidet. Und so hatte ich sie auch kennengelernt. Sie hatte dunkelblonde Locken. Ihre Augen waren strahlend blau. Die Haut war von Natur aus blaß. An diesem Abend hatte sie sich um ihre Augen und um ihren Mund kräftig mit Schwarz und Rot geschminkt. Sie trug schwarze Kleider und sie hatte an diesem Abend ihre lackierten Fingernägel spitz gefeilt. Das Schwarz und das Blau im ihre Augen und das Rot auf ihren Lippen stachen richtig aus ihrem blassen Gesicht heraus.
Wenn sie mir an diesem Tag erzählt hätte, dass sie Draculas Enkelin gewesen wäre, ich weiß nicht, ob ich ihr geglaubt hätte, aber ich hätte auf jeden Fall vorsichtshalber ein paar Knoblauchzehen gegessen und mich mit Weihwasser begossen. Sie sah wirklich aus wie ein Vampir.
Damals ging Martina auf die Eschenried – Realschule. Sie hatte eine Schwester namens Susanne, Eltern und eine Katze, die Pussy hieß. Und ich lernte auch ihre besten Freundinnen Michaela und Katrin kennen. Sie gingen mit ihr auf die selbe Schule.
Ich erinnerte mich auch daran wie ich sie zu ihren siebzehnten Geburtstag in eine Eisdiele am Marktplatz eingeladen hatte. Zuvor war sie im Krankenhaus gelegen. Mit ihrem Fahrrad hatte sie einen Unfall gehabt. Zu meiner Einladung erschien sie mit einer roten Schramme über ihrem linken Auge. Ich hatte ihr eine Cinemaausgabe geschenkt, in der ein Johny Depp – Film vorgestellt wurde. Ich hatte am Rande mitbekommen, dass sie ein begeisterter Johny Depp-Fan war. Ihrer Meinung nach hatte er ein grosses Sex-Appeal. Damals hatte ich noch lange Haare gehabt und wollte unbedingt so verwegen aussehen wie Lorenzo Lamas in der Fernsehserie Renegade. Das Problem war nur: Lorenzo Lamas hatte das Gesicht eines Erwachsenen und ich das eines Milchbubies. In diesem Sommer war ich mit Martina auch in dem Film Vampirs gegangen, mit James Woods in der Hauptrolle und John Carpenter als Regisseur. Ich wusste, dass Martina Vampire mochte.
Wir trafen uns öfter. Ich verliebte mich in sie. Ich träumte oft davon, mit ihr in Sindelfingen in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Aber blöderweise verlief es ganz anders als ich es mir erträumt hatte. Und seit dem sage ich immer wieder „Zukunftsprognosen sollte man vorsichtig betrachten“.
Als ich aus dem Erospark zurückgekommen war ging mir Nicky nicht aus dem Kopf. Es war besser an Nickys knackigen Busen und an ihr hübsches Gesicht zu denken, als an das traumatische Ereignis mit Benjamin und Dirk. Ich hoffte, dass sich die Erinnerungen an diese beiden Gespräche bald in Luft auflösten. Und zwar für immer.
Nicky hatte etwas, was viele Frauen, vor allem die Jüngeren, im Erospark nicht hatten. Sie hatte Humor und Herz. Ich hatte es gemerkt. Sie war ein Typ mit dem man Pferde stehlen konnte. Ich wollte sie unbedingt bald wieder sehen. Ihr hübsches orientalisches Gesicht ging mir nicht aus dem Kopf.
So kam es, dass ich schon bald wieder im Erospark landete. Ich bummelte den Gang entlang. Und Nicky saß auf einem Barhocker. Sie schaute in den Fernseher, in dem die Comedy-Serie „Die Nanny“ lief. Nickys Beine waren überkreuzt. In Ihrer rechten Hand hielt sie eine Zigarette. Ihr orientalisches Gesicht war nicht nur sehr schön, es strahlte auch eine gewisse Frechheit und Selbstbewusstsein aus. Um ihr Hals baumelte eine goldene Kette, an der ein goldenes Kreuz hing. An ihrem linken Handgelenk befand sich eine schwarze Uhr mit einem schwarzen Armband, passend zu ihrer Haarfarbe.
„Oh Michael, hast du dich wieder verlaufen,“ fing sie an zu scherzen. Sie grinste frech. Lachfalten erschienen auf ihrem Gesicht.
Ich grinste und nickte.
„Eigentlich wollte ich diesmal ins Cáfe, aber irgendwie klappt es nicht mit der Orientierung."
„Also Michael, nee, das mit der Orientierung müssen wir noch trainieren. Ich muß dir eine Karte machen. Da ist der Puff, hier das Sterncenter und hier die Altstadt mit dem Café.“ Mit ihren beiden Zeigefingern zeichnete sie in die Luft eine Karte und deutete an die Stellen wo die erwähnten Etablissement waren.
Ich lächelte. Unwillkürlich wanderten meine Blicke ihren zierlichen Körper hinab. Ich konnte nicht anders. Mutter Natur rief nicht nach mir. Nein. Sie schrie nach mir. Ich war wirklich von ihr angezogen. Es war mit dem Verstand nicht zu erklären. Eine unsichtbare, uralte und animalische Macht hatte mich in diesem Augenblick im Griff. Im Nu hatte sie jeglichen Verstand, jeglichen Scham und Anstand in mir ausgeschaltet. Die wildesten Phantasien überfluteten mich, wie das Meer einen Strand. Jede Zelle meines Körpers war von ihr elekrisiert.
„Michael, das mit der Orientierung klappt nicht, wenn du mir auf die Titten schaust. Echt schlimm,“ sagte sie scherzhaft.
„Entschuldigung, die Erdanziehung zieht mein Blick hinunter. Du verstehst? Das nennt man ein physikalisches Gesetzt.“
„Ja, ja, du bist mir so einer,“ sagte sie locker.
„Du hast einen wunderschönen Körper,“ sagte ich leise, und merkte, dass mein Herz schneller schlug.
„Vielen Dank, “lächelte sie. „Und was machst du noch,“ fragte sie.
„Ein bisschen joggen und Zirkeltraining. Und du?“
„Ich muß arbeiten, und habe für nichts Zeit,“ sagte sie und rollte das „R“ dabei.
„So, geh dann mal schön spazieren. Ich muß weiterarbeiten,“ sagte Nicky.
Da fiel mir noch eine Frage ein.
„Wie lange arbeitest du noch in diesem Laden?“
Nicky seufzte:“ Ich weiß es nicht.“ In ihrer Stimme lag eine grosse Portion Ratlosig-keit.
„Ich geh´ dann mal, damit du kein Ärger bekommst.“
„Okay, tschüs, pass auf dich auf,“ ja,“ sagte sie in einem fast mütterlichen Ton und strich mir dabei mit ihrer linken Hand über meinen Bauch.
Ich lächelte breit und sagte:“ Nicky, habe ich dir schön gesagt, dass du ein bildhübsches Gesicht hast wie eine Prinzessin aus dem Orient.“
Nicky lehnte mit ihrer linken Schulter am weissen Türrahmen und lächelte.
„Und das meine ich ernst, es soll keine Anmache sein,“ schob ich schnell nach.
„Danke, dir glaub´ ich es,“ lächelte sie und kniff dabei die Augen ein bisschen zusammen. Mit der Hand strich sie mir wieder über den Bauch.
„So, geh bitte, wenn ich nicht weiterarbeite, bekomme ich Probleme. Und paß auf dich auf.“
Langsam ging ich die Treppe hinunter. Auch wenn ich nicht mit ihr im Bett gewesen
war, war es ein Genuß mit ihr zu reden und sie anzusehen
In den nächsten Wochen ging ich öfter dorthin. Nicky gefiel mir unheimlich. Es machte mir den Eindruck als würde ihr meine Behinderung nichts ausmachen. Das, ohnehin dünne, Eis zwischen uns war schließlich schon bald ganz weg. Ich merkte, wie ich ihr gegenüber die Scheu verlor, und dass sie mir gegenüber keinerlei Berührungsängste hatte.
Die Sache mit Martina hatte ich irgendwo in eine der hintersten Schublade meines Kopfes gelegt. Dummerweise gab es für diese traumatische Erfahrung keinen Mülleimer oder einen Schräder.
Und so kam es wie es kommen musste. Eines Tages, im April, recherchierte ich per Internet die Nummer ihres Zimmers, und verabredete mich mit ihr zum Sex. Der Erospark hat eine Homepage mit Belegungsplan, auf dem die Zimmer mit den dazugehörigen Telefonnummern drauf sind. Dass ich beim telefonieren nicht vor Aufregung an einem Herzanfall gestorben war, ist für mich heute noch das achte bis zehnte Weltwunder zusammen.
Genauso wenig wie ich das auf- und untergehen der Sonne verhindern konnte, genauso wenig konnte ich verhindern, dass ich ihr widerstehen konnte. Wenn man hetero war und man sie sah, war das meiner Meinung, nach unmöglich.
Ein kurdischer Freund, der Taxifahrer ist, hat mal, mit seinem schwäbischen Akzent gesagt:“ Michael, das ist Mutter Natur. Da kannsch gar nix machen. Glaub´mir. Du willsch brav, anständig, zivilisiert, ethisch angepasst und was der Geier was sein. Aber wenn du ´ne geile Muschi siehst, dann.. I kenn des Spiel. Da bisch machtlos.“
Ich war echt spitz auf Nicky. Ich ging zu ihr. Sie trug an diesem Abend einen weissen BH und einen weissen Slip, welches sich von ihrer Haut besonders gut abhob.
Als ich zur Tür kam verabschiedete sich eine Kollegin von ihr auf tschechisch.
Mit grossen braunen Augen schaute sie mich an und sagte:“ Ich hätte nie gedacht, dass du so schnell die Treppe hochlaufen kannst. Was Sex nicht alles bewirken kann.“
Ich ging nicht darauf ein und fragte:“ Wollte deine Kollegin mitmachen - du weißt schon Teamwork. Ich habe gehört, dass osteuropäische Frauen gerne im Team
arbeiten.“
Sie lachte:“ Das schaffe ich auch alleine. Über deinen Anruf war ich echt überrascht.“
„Wirklich, wenn du dich im Team wohler fühlst... Dabei denke ich nur an dein Wohl. Ich will nur, dass es dir gutgeht. Ich bin ein Gentleman. Und ausserdem man ergänzt sich im Team.“
Sie lächelte:“ Du bist mir einer. Komm rein. Ich glaube, das kann ich alleine.“
„Doch wirklich. Das stand in der Zeitung. Und zwar in der Bildzeitung, auf der ersten Seite.“ Sie gab mir einen Klaps auf den Bauch.
Ich ging rein, gab ihr das Geld. Beim betreten des Zimmers merkte ich, dass ich nicht nur scharf auf sie war, sondern auch neugierig. Ich wollte nicht nur schnell möglichst viele Samenzellen loswerden. Ich wollte auch ihren ganzen Körper erforschen. Wie fühlten sich Ihre kleinen Brüste, ihr Geschlecht und ihr Po an? Das breite Bett war von einer schwarzen Decke überzogen. Ein knallrotes Kissen, das die Form eines Herzes hatte, befand sich am Kopf des Bettes. Am Fenster hingen knallrote Vorhänge, durch die die untergehende Abendsonne schien. Neben dem Fenster war eine Tür, die auf einen Balkon führte. Man sah durch das Fenster auf die Wand des Hornbachs. Nicky hob den weißen Läufer vom Boden auf und tat ihn auf den Sessel.
„So, nicht das du runterfällst,“ sagte sie.
Auf einem Tisch, an der Wand, stand ein buntes Plexisglas, auf dem Maria, Josef und das kleine Jesuskind abgebildet waren. Ich fragte sie, ob sie gläubig sei. Nicky antwortete, dass sie katholisch sei. Eine goldene Kette mit einem Kreuz hing an ihrem Hals. Nicky zog ihre weisse Unterwäsche aus, und sprang kurz unter die Dusche. Mir fiel schnell auf, dass ihr Geschlecht rasiert war. Und zwar blitzblank. Mein Herz schlug schneller. Als sie wieder aus der Duschkabine stieg, merkte ich, dass ich nicht nur neugierig sondern auch ein wenig schüchtern war.
Nicky fragte:“ gefall´ ich dir?“
Ich nickte und betrachtete ihren nackten Körper. Mein Herz schlug schneller. Zwar wusste ich genau was ich wollte, aber getraute es mir nicht zu sagen. In diesem Augenblick war die Neugierde und der Forscherdrang in mir sehr groß.
Sie kam zu mir ins Bett. Ihre nackten Füsse hallten dumpf auf dem Boden.
„Nicky,“ sagte ich etwas schüchtern und merkte, dass ich ziemlich verlegen war.
„Darf ich dich auch anfassen?“ stotterte ich die Frage hinaus.
„Natürlich!“ sagte Nicky laut.
Und so schickte ich meine Hände auf eine Expedition. Sie tasteten sich zu den Körperstellen hervor, die ich erforschen wollte. Ihre brünette Haut war warm, weich und roch nach Schampoo. An manchen Stellen war ihre Haut vom Duschen noch feucht. Ihren Körper schaute ich mir haargenau an. So als würde ich einen ganz exotischen Gegenstand betrachten. Ich spürte ihren Atem auf meiner Haut. Nicky lächelte mich an und fragte lächelnd:“ Macht dir das Spaß?“
„Ja,“ grinste ich.
Schliesslich legten wir mit der Bettgymnastik los. Als Nicky über mir war, baumelte ihre goldene Halskette mit dem Kreuz rhythmisch hin und her.
Es kappte erst beim zweiten Mal, beim ersten Mal war ich zu aufgeregt. Nicky nahm es locker, dass es beim ersten Mal nicht geklappt hatte. Sie sagte:“ Michael, du bist doch keine Maschine.“
Im Radio lief der Song „Mad World.“ Von meinen gut trainierten Bauchmuskeln war sie begeistert und ich nahm mir vor sie stärker zu trainieren.
Sie fragte „Darf ich sie anfassen?“
Ich sagte:“ Na klar,“ Ich spannte sie extra fest an. Nach dem wir fertig waren, trat ich aus dem Zimmer.
„Vielen Dank, mir hat nicht nur der Sex Spaß gemacht, sondern auch das Streicheln und das Drumherum.“
„Bitte.“ Sie strich mir über meinen Bauch.
„Deine Bauchmuskeln deprimieren mich. Guck mein Bauch“ sagte sie
„Ein kleines Kissen dabei zu haben schadet nicht. Da liegst du weich. Okay, ich muß gehen,“ sagte ich zu ihr.
„Paß gut auf dich auf, und ruf mich an wenn du Zuhause bist,“ sagte ich mit einer leicht besorgten Stimme.
„Ja mache ich. Tschau“ Ich ging.
Nicky rief ich erst am nächsten Tag an, weil ich bis spät unterwegs gewesen war. Sie war sauer. Sie hatte gedacht, dass ich noch am gleichen Abend anrufen würde.
Sie sagte:“ Michael, warum hast du mich einen Tag warten lassen. Ich hatte Sorge um dich.“
Ich fand es echt rührend, dass sie sich Sorgen um mich machte. Das hatte ich von einer Prostituierten nicht erwartet. Es lag an meiner Behinderung. Aber es machte sie für mich sympathischer. Es gab Frauen, denen war es egal wenn ich neben ihnen hinfiel. Sie würden sich nicht rühren, auch wenn ich mir den Hals brach, oder wenn ein Laster auf mir parken würde. Und diese Frauen waren gebildet und arbeiteten nicht im Bordell.
Und so schlenderte ich regelmässig zur Nicky. Es vergingen Monate. Aus dem Winter war Frühling und schliesslich Sommer geworden. Sie konnte schon die Uhr danach stellen. Alle ein zwei Monate, wenn ich das Geld zusammen hatte, stieg ich mit ihr ins Bett. Ich glaubte zu merken, dass sie gerne mit mir ins Bett stieg. Jedes mal bemühte sie sich für mich anfangs einen echt guten Strip hinzulegen. Da waren die Sexy Sportclips auf DSF nichts dagegen. Und jedes Mal tat sie es mit einem sympathischen Lächeln auf ihren Lippen. Wenn da nicht mal ein Hauch Freude dabei war, dann war sie eine verdammt gute Schauspielerin.
An einem frühen Abend, als ich die Strasse zum Erospark entlanglief, waren Nicky und Diana auf dem Balkon. Diana rauchte eine Zigarette. Nicky stand auf, winkte mir zu und sagte:“ Hallo Michael, schön, daß du da bist.“
Einmal, die Szene werde ich nie vergessen, saß ich auf dem Bett. Sie stand splitternack an dem Waschbecken und machte sich frisch. Sie fragte:“ Wo ist bloß mein Haarkamm hin?“ Sie warf mir ein Lächeln zu und zwinkerte dabei mit ihrem rechten Auge. Ich wusste, was sie vorhatte. Und sie wusste, dass ich die allerletzte Person auf diesem Planeten war, die sie daran hindern würde.
„Mhm, ich glaube, der muß wohl runter gefallen sein. Da muß ich mich ja bücken, um ihn zu suchen. Ich glaube, er ist in dem Mülleimer gelandet. Warte, ich schaue.“
Sie bewegte sich absichtlich langsam. Und in den darauf folgenden zwei Minuten dachte ich nur eins:“ Halleluja!!!, ich liebe die Tschechai.“
„Also, im Mülleimer ist der Kamm nicht, und auch nicht auf dem Boden. Wo ist er den bloß? Ach der Kamm liegt ja doch auf dem Waschbecken. Jetzt sehe ich ihn. Michael, warum hast du ihn nicht gesehen?“ Sie lächelte mich an und zwinkerte. Von Anfang an musste ich, dass diese Einlage dazu diente, mich spitz zu machen. Ich hatte den Eindruck gehabt, dass ihr die Show Einlage selber Spaß gemacht hatte. Sie war auffällig langsam in die Hocke gegangen und hatte mir dabei ein Lächeln zugeworfen. Ich war davon überzeugt, dass sie mir mit der Show eine Freude machen wollte. Ich hatte sie nicht um diese Show gebeten. Sie hätte es nicht machen müssen. Sie hatte es von sich aus gemacht.
„Die Sonne hat mich geblendet,“ sagte ich schnell. In diesen Augenblick wollte ich nicht zugeben, dass ihr Haarkamm das aller Letzte war, was mich im vorherigen Moment interessiert hatte.
„Ja, die Sonne. Schlimm. Deshalb konntest du mit nicht beim Suchen helfen. Ich verstehe dich.“ Sie nickte und lächelte breit.
„Ach übrigens, hier vom Bett aus hat man eine richtig schöne Aussicht. Hast du das gewusst?“
„Ja, ja vor allem wenn ich nackt nach dem Haarkamm suche,“ sagte Nicky mit einer leicht provokanten Stimme.
„Ja, ganz genau,“ erwiderte ich kurz und zwinkerte Nicky zu. Mein Mund formte sich zu einem Grinsen, das nun etwa zwei Kilometer breit war.
„Du bist mir so einer,“ sagte sie und stemmte ihre Hände in de Hüften
„vielen Dank Nicky,“ sagte ich und strich ihr über den Bauch.
„Gern, jetzt machen wir Abendsport, ja?“ fragte sie.
„Ich sage bestimmt nicht nein,“
Und dann legten wir los.
Bei meinen Besuchen sprudelten auch die Witze aus mir raus, wie Sprudel, aus einer Flasche, die kurz davor geschüttelt worden war.
Wenn ich einfach nur so bei Nicky vorbeischaute, ohne mit ihr Sex zu haben, schaute sie fordernd zu mir hoch, schmunzelte und fragte:“ Michael, wann kommst du mich mal wieder besuchen?“
„Ich bin doch hier,“ sagte ich.
„Nein... Michael, du weißt wie ich das meine.“ Ihre braunen Augen sprachen Bände und liessen mich fast schmelzen.
In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde ein elektrischer Strom durch meinen Körper fahren. Es war ein Strom der Wolllust. Und ich wusste eines ganz genau: Ich werde niemals im Kloster landen, zumindest in keinem, in dem Mönche lebten, oder Nonnen die über fünfunddreißig waren.
„fragst du das weil du Geld brauchst, oder weil es dir ein bisschen Spaß macht?“ fragte ich. Wie ich es geschafft hatte, in diesem Augenblick, vor lauter erotischer Extase eine so lange Frage einwandfrei, und ohne einen grammatikalischen Schaden, zu formulieren, weiß ich bis heute nicht.
Nicky winkte mich zu sich. Ich neigte meinen Kopf zu ihr und drehte ihr mein Ohr zu.
„Das Geld, das du mir gibst, macht mich weder reicher noch ärmer.“ Ich spürte ihren warmen und Atem an meiner Wange, der nach Redbull roch.
„Also nimmst du mich, weil es dir Spaß macht?“
Sie nickte „Ja, es ist schön mit dir, wenn du bei mir bist.“
Ich beschloß es aufzugeben, in ihrer Gegenwart mit dem Kopf zu denken. Es war schlicht und einfach unmöglich.
In dem Sommer fanden die Olympiaden statt. Sie sah es sich im Fernsehen an. Da sagte ich zu ihr:“ Die Leichtathletik hat eine neue Disziplin erfunden – und zwar den Catwalk.“
Als ich in Nickys verwirrtes Gesicht schaute, wusste ich, dass mein Witz auf Grund tschechisch- deutscher Konversationsprobleme gescheitert war. Sie hatte nicht verstanden, dass ich mit dem Catwalk auf den Striptease an einer Stange anspielte.
Ansonsten unterhielten wir uns. Ich erzählte ihr von meinem Job, meinem Fitnesstraining und las ihr meine Gedichte und Kurzgeschichten vor. Dass sie eine Prostituierte war hatte ich manchmal vergessen. Einmal zog sie für einem Monat in ein anderes Zimmer, in dem ein großer Wandspiegel war. Und schwubs schmolz mein Kontostand fast so schnell, wie ein Schneeball, der in einem Ofen gelandet war.
In diesem Sommer machte ich Urlaub in Griechenland. Ich schrieb Karten an Nicky, Diana und andere Damen aus dem Erospark. Aus Griechenland brachte ich Ihr einen kleinen Schlüsselanhänger mit. Ein Freund, mit dem ich im Urlaub war, hat sich gewundert, warum so viele Karten an die selbe Adresse gingen.
Als sie zwei Wochen Urlaub in der Tschechai machte, brachte sie mir ein kleines Parfümfläschchen mit. Inzwischen war es Oktober geworden. Ich kannte Nicky seit etwa einem dreiviertel Jahr.
Sie sagte:“ Michael kommst du. Ich habe etwas für Dich.“ Sie drückte es mir in die Hand. Es war klein, lilla, hatte einen goldfarbenen Rand und einen goldfarbenen Deckel. Sie schenkte mir auch einen Schlüsselanhänger. Es war ein kleines schwarzes Entchen, das gelbe Arme und Beine hatte. Der linke Fuß steckte in einem rotweiß geschreiften Strumpf. Die Augen der Ente waren weiß. Als sie mir diese Ente gab, sagte sie zu mir:“ Michael, das soll dich immer an mich erinnern, ja.“ Ich umarmte sie. Das war eine spontane Dankeschön-Umarmung.
Anfangs zögerte sie und sagte:“ Was ist, wenn die anderen Männer das sehen?“
„Ach komm schon – als dankeschön.“
„Was sollt´s, warum nicht.“ So umarmten wir uns. Und ich war echt froh die schönste Frau des Erosparks in den Armen zu halten.
Von ihr erfuhr ich im Laufe der Zeit, dass sie einen Bruder, zwei Schwestern hatte und elffache Tante war. Sie war achtundzwanzig und hatte am zwölften Februar Geburtstag. Sie erzählte nie warum sie diesen Job machte. Da ich noch lange leben wollte und den Hintermännern nicht traute, fragte ich auch nie nach. Sie gestand mir auch, dass sie die deutschen Spätzle möchte – genau wie ich. Genau so wie ich liebte sie Kässpätzle. Sie mochte Tiere und hatte eine weisse Terrierhündin namens Mimmi und eine Katze. Zweimal hatte ich mit Mimmi gespielt und sie gestreichelt.
Noch heute frage ich mich, warum Nicky den Job überhaupt machen musste. Dafür war sie zu klug, zu nett und zu schade.
Niemandem von meiner Familie oder meinen Freunden hatte ich von der Bekannt-schaft mit Nicky erzählt. Manchmal nachdem wir uns telefonisch für ein Treffen verabredet hatten, lag ich auf meinem Bett und dachte nach, ob das richtig war. Was würde geschehen wenn das rauskäme? Würde mich dann alle für einen Perversling halten? Würde ich dann meine Freunde verlieren? Diese Gedanken schwirrten mir durch den Kopf als ich mit meiner Mutter und meiner Tante an der Grenze zu Elsaß einen Park und mit meinem Bruder und seiner Familie die Wilhelma besucht hatte.
In der Wihelma kaute ich einen Kaugummi, den mir Nicky geschenkt hatte. Normalerweise esse ich keine Kaugummis
Ein paar Mal wollte Nicky, dass ich einfach so bei ihr anrufe. Sie wollte meine Stimme hören. Dass sie mich sympathisch fand, hatte ich schon von Anfang an gemerkt. Ich grübelte oft darüber nach, ob eine Freundschaft oder Sympathie zwischen einem behinderten Mann und einer Prostituierten so gut war.
Und da kamen mir auch wieder Erinnerungen an Martina hoch. Obwohl Nicky sehr nett zu mir war, wünschte ich mir, dass Martina meine Freundin geworden wäre. Denn trotz der Freundlichkeit die mir Nicky entgegenbrachte, sie war eine Prostituierte, die es für Kohle machte. Man durfte sich auch nicht ausserhalb des Bordells mit ihnen treffen. Sie würde mich immer nur als eine Geldquelle betrachten. Das heisst Kino, Disco und andere Veranstaltungen waren nicht drin. Wenn man sie auf der Strasse traf, taten sie so, als würden sie einen nicht kennen. Einmal hatte ich Nicky und Diana rein zufällig im Sterncenter getroffen. Ich wollte sie höflich begrüssen, und schon waren sie weg, obwohl ich sie nicht blöd anmachen wollte.
Mir gefiel Atmosphäre im Erospark manchmal nicht. Die Frauen wurden zum Teil echt blöd angemacht. Nicky hatte sich einmal in meiner Gegenwart die Hose zurecht gezupft, da fragte ein junger Mann im vorbeigehen:“ Hey, Machst du dir´s selber oder was?“ Nicky achte nicht darauf. Sie hatte lernen müssen solche Sprüche zu überhören. Trotz der Bedenken, die ich hatte, konnte ich die Finger nicht von ihr lassen. Einmal hatte ich gehört, wie ein Betrunkener durchs Haus gegröhlt hatte. Ich sagte Nicky, sie solle sich lieber im Zimmer einschliessen und warten bis der Mann weg ist. Nicky sagte:“ Michael, mach dir keine Sorgen.“ Sie rief einen Mitarbeiter namens Georg an, der den Mann hinaus begleitete.
Nachdem ich sie einmal besucht hatte sagte ich:“ Nicky, ich werde mir nie wieder die Finger waschen.“ Dabei setzte ich mein breitestes Grinsen auf.
Nicky antwortete mir sofort:“ Das glaube ich dir. Du Schlingel.“ Sie kraulte mir freundschaftlich am Bauch, was Gott sei Dank kostenlos war, denn sie tat es öfter.
Der Kalender zeigte den Monat November an. Mit unserer Bettakrobatik waren wir fertig als Nicky zu mir sagte:“ Michael, Du bist lieb. Und du sagst immer danke, wenn du bei mir warst. Und du fragst immer, ob es für mich angenehm ist. Ich mag dich.“ Sie griff in eine Tasche, holte eine Banane heraus und gab sie mir. Ich hätte nie gedacht, dass mich mal eine Prostituierte mögen würde. Ich streichelte ihr über die Wange und sagte:“ Danke, aber du brauchst doch auch Vitamine“.
„Mach dir keine Sorgen, ich habe Vitamine.“
„Bedanken sich die anderen Männer nicht bei dir?“ fragte ich.
Nicky schüttelte den Kopf „Nein, das tun sie nicht.“ Dabei wurde ihre Stimme leise.
Es stürmte draußen. Der Regen prasselte gegen das Fenster. Der Himmel war dunkelgrau, fast schwarz. Nicky sagte in ihrem fürsorglichen und ernsten Ton:“ Bei dem Wetter laß ich nicht zum Bus laufen. Ich rufe dir ein Taxi.“ Das tat sie auch. Mit dem Finger strich ich ihr über die eingecremte Wange und sagte:“ Danke Nicky.“ Diana kam. Sie trug eine blaue Jeans und ein schwarzes Hemd, das keine Ärmel hatte. Ich wusste, sie hätte mir kein Taxi bestellen müssen. Aber sie hat es von sich aus getan.
„Na Michael, du strahlst ja so,“ lächelte Diana.
„Und dabei war ich gar nicht in Tschernobyl,“ erwiderte ich.
Viele andere aus ihrem Gewerbe hätten mich vor die Tür geschickt, auch wenn es draussen Hunde, Katzen oder Elefanten geregnet hätte. Für mich war Nicky eine Mischung aus einer ultimativen Sexgöttin und einer Kameradin geworden.
Im Laufe der Zeit hatte ich sie mit vielen zweideutigen Scherzen und Witz bombardiert. Die meisten hatte ich im Internet recherchiert, bevor ich Nicky besuchte. Inzwischen kannte sie meine Art von Humor und konnte damit sehr gut umgehen. Nach jedem zweideutigen Scherz sagte ich „Nicky, es war Spaß.“
Sie zwinkert mir lächelnd zu:“ Das habe ich jetzt total ernst genommen. So, jetzt rede ich einen Monat kein Wort mit dir.“
„Naja, mit mir reden brauchst du ja nicht, aber mit mir...“
Sie stemmte die Hände in die Hüften, verzog das Gesicht und sagte mit einer gespielt, ernsten Miene:“ Ich glaube, du solltest spazieren gehen. Schlimm mit dir. Ich muß dich erziehen. Ich glaube, ich hole unsere Domina.“ Ihre Stimme klang gereizt. Allerdings wusste ich, dass sie auch nur Spaß machte.
„Oh, Wenn das so ist, gehe ich lieber.“ Sie lachte.
„Okay Michael, paß auf dich auf, ja.“
Ich nickte lächelnd:“ Ja, mache ich, und du versprichst mir, dass es dir immer gut geht.“ Ich strich ihr mit dem Finger über die Wange.
„Keine Sorge, mir geht es immer gut.“
Dann ging ich.
Einmal hatte sie gefragt:“ Michael, kennst du kein hübsches Mädchen bei dir in der Umgebung?“
„Ich kenne eines. Aber die Sache ist anders gelaufen wie ich es mir gewünscht habe. Aber ich will nicht darüber reden. Ich will es vergessen.“
„Das ist wahrscheinlich das Beste,“ sagte Nicky.
„Es ist echt unglaublich, was für ein schönes Gesicht du hast,“ sagte ich
Sie blinzelte mir selbstbewusst entgegen und lächelte dabei.
Die Vergangenheit ist ein Teil der Persönlichkeit. Manche Teile davon sind schön. Auf manche konnte man aber getrost verzichten.
Leider war man manchmal nicht der Regisseur seines Lebens. Vor allem wenn man eine Behinderung hat wie ich. Obwohl, wenn ich der Regisseur meines Lebens gewesen wäre, hätte ich jetzt etliche Unterhaltsverpflichtungen am Hals.
An einem Abend öffnete ich mein E-mail-Postfach und sah:“ HYPERLINK mailto:[email protected] martina [email protected]. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, als würde irgendjemand ein Krater in meine Brust reißen
Im Geist war ich wieder in ihrem Garten, in der Bergstrasse, in der Nähe vom Ratgeber Holzbau. Martina feierte ihren zwanzigsten Geburtstag. Es war eine sternenklare Nacht. Aus einer Stereoanlage dröhnte laute Musik. Und Martina war wieder mal bildhübsch, auch wenn sie für meinen Geschmack, mit dem Gesicht zu lange in der Schminke gebadet hatte. Die Bäume auf dem Grundstück ragten in die Höhe. Rechteckige Biertische- und Bänke waren aufgestellt. Überall, an den Stufen, die von der Garage zum Garten führten, in der Garage, in der Mitte der Biertische, standen brennende Teelichter. Auch Fackeln waren aufgestellt worden und brannten. Die Luft hatte inzwischen abgekühlt. Der Topf mit roter Rosen, den ich ihr geschickt hatte, stand ebenfalls auf einem der Tische. Bunte Schüsseln voller Salate, Teller mit Baguettes und Pizzen standen zwischen den Teelichtern auf den Tischen. Ihre Katze, Pussy, flitzte durch den Garten an einem der Bäume hoch.
Alle Gäste lachten und unterhielten sich. In ihren Händen hielten sie Biere und Weine. Ich saß auf einer Bierbank, die Beine breit, die Ellbogen auf den Knien, die Hände gefaltet. Ich sah vom Boden hoch und...“
Ich spürte den Schmerz, den mir diese Erinnerung immer noch verursachte. Er machte mich kraftlos und mein Magen zog sich zusammen. Seit Martina aus Sindelfingen weggezogen war, verdrängte ich die Erinnerung. Aber leider konnte ich sie nicht löschen, wie eine Festplatte, wenn man Format C eingab. Gnadenlos überrannten sie mich in diesem Augenblick. Auf einmal wurden alle Einzelheiten wieder so deutlich.
Ich sah wie ihre Zunge, mit der eines Typens namens Benjamin herumspielte. Benjamin hatte braune lange Haare gehabt und sah aus wie Jesus Christus als Teenieverschnitt. Er lag in ihren Armen. In diesem Moment glaubte ich ein Messer in meiner Brust zu spüren.
Ich schloß mein Emailaccount wieder, ging aus dem Internet und lehnte mich ans Fenster. Meine Knie waren weich und mein Herz raste. Das was ich an jenem Abend in Martina´s Garten erlebt hatte war heftig. Aber nicht das aller Heftigste. Das Gespräch zwischen Benjamin war viel heftiger und hätte mir fast den Rest gegeben. Wie ich das Gespräch überstanden hatte und mich dabei beherrschen konnte, weiß ich bis heute nicht. Damals, nach den Gesprächen mit Benjamin und Dirk hatte ich mich in München im Schullandheim volllaufen lassen. Meinen Eltern hatte ich gesagt, meine Klassenkameraden hätten mich zu Trinkspielchen verführt. Das war nur die halbe Wahrheit. Ich hatte aus Frust getrunken, - Frust deshalb, weil Martina mit Benjamin gevögelt hatte.
„Ich hätte offen mit ihr darüber reden sollen,“ dachte ich, „auch wenn es zwischen uns den grössten Krach gegeben hätte – aber es wäre wenigstens aus mir raus gewesen,“ dachte ich.
Ich hörte wieder Dirks tiefe Stimme:“ Im Unterbewusstsein denkt sie weiter. Sie denkt vielleicht: Michael ist zwar trotz seiner Behinderung nett aber mit einem Behinderten...“
In diesem Moment beschloß ich meine geistige Tour in die Vergangenheit abzubrechen. Es war als hätte Jemand mir die Luft abgeschnürrt. Ich brauchte Luft, und zwar schnell. Ich ging in den Stadtpark von Sindelfingen und versuchte in meinem Kopf aufzuräumen – aber ohne Erfolg.
Ich kam zurück in die Wohnung. Mein Mitbewohner war schon da.
„Rainer und Vannessa kommen heute,“ sagte Florian. Rainer arbeitete beim Daimler am Band und seine Frau in Vaihingen als Bürokauffrau.
„Gut,“ sagte ich und ging wieder ins Internet. Ich öffnete die Mail und las
„Hallo Michael, ich hoffe, dir geht´s gut. Bei mir geht es in der Arbeit drunter und drüber aber mir geht es auch gut. Werde in ein paar Wochen nach Sindelfingen kommen. Wäre schön, wenn wir uns treffen könnten.
Wir können wieder mal miteinander telefonieren. Hab schon so lange nichts mehr von dir gehört.
Liebe Grüsse
Deine Martina“
Ich lehnte mich zurück und seufzte. Es hatte eine Zeit geben, da wollte ich ständig bei ihr sein – jede Sekunde.
In diesem Moment wünschte ich mir, ich würde Martina nie wieder sehen. Nicht weil ich sie hasste, nein, sondern weil ich es vergessen wollte. Ich wollte vergessen was damals war. Die Beziehung zwischen Benjamin und Martina war später auseinander gegangen. Sie wollte mit mir eine tiefe freundschaftliche Beziehung, vögelte aber Benjamin.
Ich atmete tief durch und wusste nicht was ich fühlen sollte. Ich schloß die E-Mail und schaute auf die hölzerne Platte meines Schreibtisches.
Wäre es besser gewesen, ich hätte mich damals anders verhalten? Hätte es was gebracht? Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Benjamin und an seinen
triumphierenden Gesichtsausdruck bei seiner Beichte, die ich hoffentlich eines Tages für immer vergessen werde.
So lief ich einige Zeit wieder durch den Erospark. Ich war nicht mehr fröhlich, sondern stumm. Die Frauen begrüsste ich nur kurz. Bilder, die ich vergessen wollte, waren wieder da. Warum hatten Erinnerungen kein Verfallsdatum, wie ein Pfund Butter? Als Martina aus Sindelfingen weg gezogen war, war es von Tag zu Tag besser geworden. Schliesslich war es weg. Ich kam zu Nickys Tür. Sie war geschlossen. Ich sah wie ein grosser südländischer Mann links durchs Treppenhaus nach unten ging.
Ich erinnerte mich wieder an das Gespräch. Es war ein lauer Sommerfreitag. Damals saß ich im s´Cafe. Benjamin war angeheitert. Er hatte lange Haare, blaue Augen und ein Milchbubigesicht. Er trug ein schneeweises Hemd, mit Knöpfen eine blaue Jeans, einen schwarzen Gürtel und braune Schuhe.
„Das ist echt der Hammer..“ erinnerte ich mich an seine Stimme. Er hatte ein Becks- Bier in der rechten Hand. Martina war damals mit ihrer Theatergruppe unterwegs
gewesen. Ich brach die Erinnerungen ab.
Ich atmete tief durch, schaute zu Boden und Nickys Tür ging auf.
„Hallo Michael,“ sagte sie mit einer fröhlichen Stimme.
Als sie in mein Gesicht schaute, sah sie, dass ich gar nicht gut drauf war.
„Was ist los?“ fragte sie mit einer besorgten Stimme. „Ist was passiert?“
„Wenn ich normal wäre, würden sie die Frauen bei mir wohler fühlen,“ sagte ich und sah zu Boden.
„Wer sagt diese Scheisse,“ fragte Nicky provokant.
„Es ist so.“
„Michael, ich will niewieder solche Worte von dir hören,“ sagte sie mit einer strengen Stimme. Die Zigarette hielt sie in der rechten Hand.
Da platzte es aus mir heraus. Nur der Allmächtige und vielleicht Sigmund Freud wussten, warum es in diesem Moment aus mir heraus brach.
Ich erzählte Nicky von dem E-Mail und von dem Gespräch mit Benjamin:“ Michael, es ist echt der Hammer. Martina will es von mir jeden Tag,“ prahlte Benjamin. „und wenn sie besonders gut drauf ist will sie es sogar ohne Kondom.“
„Psst Michael nicht so laut,“ sagte Nicky
„Hey, ich meine ich mag sie. Ich hätte jahrelang alles für sie getan. Ich wäre am liebsten sofort zu ihr gezogen. Aber sie hüpfte mit dem ins Bett, bloß weil es mit ihm angenehmer ist und ich leider nicht normal bin. Und das manchmal ohne Kondom. Benjamin hat richtig damit angegeben. Und ich durfte gar nichts. Später habe ich mich mit einem Freund darüber unterhalten. Er meinte:“ vielleicht denkt sie der Michael ist vielleicht ein netter Kerl. Aber er ist behindert. Und von einem behinderten Mann womöglich schwanger werden. Ein Kind und eine Partnerschaft mit einem Behinderten? Da hätte sie zwei Personen um die sie sich kümmern müsste. Ein Kind und ein behinderter Partner. Martina würde es gegenüber dir nie offen zugeben. Aber vielleicht ist das mit ein Grund warum sie nie mit dir zusammen sein will. Vielleicht denkt sie das im Unterbewusstsein und meint es nicht böse mit dir. So wie ich dich kenne, willst du keine Frau, die nur aus Mitleid mit dir ins Bett steigt und mit dir zusammen ist. Das hat er Wort wörtlich gesagt. Ich kann mich noch gut an das Gespräch erinnern.“ Ich atmete tief durch.
„Was sagt sie dazu?“
Ich schüttelte den Kopf:“ Sie weiß es nicht. Ich habe mit ihr nie darüber geredet.“
„Mit dem dann?“
„Du bist die einzige Person, der ich es erzählt habe,“ sagte ich.
„Warum hast du mit ihr nicht darüber geredet?“ fragte Nicky.
„weil sie Recht gehabt hätte,“ lächelte ich und schaute auf die rote Lichterkette, die ihre Tür einrahmte.
„Wie meinst du das?“ fragte sie.
„Sie hätte gesagt, dass ich ihre Liebe nicht erzwingen könnte. Und damit hätte sie recht gehabt. Es hätte einen heiden Streit gegeben wenn ich ihr von meiner Eifersucht erzählt hätte, und ich hätte sie als Freundin verloren. Trotz meines Liebeskummers habe ich klar denken können – es wäre sinnlos gewesen. Als ich nichts von ihr gehört habe, geriet die Sache bei mir in Vergessenheit. Und mir ging´s besser. Als die E-Mail kam, wurden diese Erinnerungen wieder hoch gespült und ich kann nichts dagegen machen.“
Ich machte eine Pause. Meine Augen wanderten zu ihrem kleinen Bauchansatz, ihrem kleinen Kopfkissen. Dann fiel er auf den dunkelgrauen Fussabtreter, der vor ihrer Tür lag.
„Ich wünschte ich wäre anders. Ich wünschte, ich wäre normal, dann ...“
„Was du erlebt hast, tut mir leid. Aber es ist nun mal so. Du hattest Recht. Du kannst es nicht erzwingen. Du willst auch mit keiner Frau ins Bett steigen, auf die du nicht stehst. Viele Männer wollen mich übers Wochenende zu sich einladen. Aber da sage ich auch nein. Aber Michael, du bist hier normal,“ sie deutete mit ihrem rechten Zeigefinger auf ihren Kopf. „viele andere Männer sind hier nicht normal, “
Sie drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus.
„So Michael, ich muß weiterarbeiten. Paß gut auf dich auf. Und rede dir nicht diesen Blödsinn ein. Ich will den fröhlichen Michael wiederhaben,“ sagte sie.
Ich atmete tief durch, und da fiel mir ein flotter Spruch ein, den ich ihr schon immer sagen wollte.
„Und ich will, dass du endlich durchsichtige Wäsche trägst. Ich bin mir sicher Klamotten aus durchsichtigem Stoff würden dir gut stehen,“ sagte ich und merkte, dass es mir wieder besser ging.
Nicky lachte:“ Na, bitte, dass ist der Michael, den ich so mag. Geht doch.“
„Martina will sich wieder mit mir treffen. Ich weiß nicht ob ich sie sehen will. Nicht weil ich sie hasse, sondern weil ich es vergessen will. Ich habe ein Problem, mit dem was damals vorgefallen war. Was soll ich tun?“ Ich wusste nicht warum ich ausgerechnet einer tschechischen Prostituierten mein Seelenleben anvertraute. Denn schließlich sind Prostituierte Frauen, denen man am besten überhaupt nichts anvertrauen sollte. Aber es war aus mir herausgeplatzt.
„;Michael, die Entscheidung will und kann ich nicht für dich treffen. Ich muß weiterarbeiten. Es tut mir leid, aber...“
„Okay, tschau, und danke,“ sagte ich
„Bitte, pass gut auf dich auf.““ sagte sie.
Ich ging. Was Martina anging, da konnte ich für mich an diesem Abend keine Lösung finden. Das Problem war, dass Martina mich mochte, auch wenn sie mit Benjamin und verschiedenen anderen Männer ins Bett gestiegen war. Ich war damals in der Traube gesessen, als Mirco gesagt hatte.“ Ich hatte Probleme ihr den BH auf zu knöpfen.“ Ich hatte meinen Ärger hinunter geschluckt. Ich meine, was hätte ich anderes machen sollen? Ihm meine Colaflasche über die Birne hauen? Ich hatte mich beherrscht. Ich musste es.
Einige Wochen später bekam ich wieder eine Mail von Martina. In der stand:
“ Hallo Michael, kann leider doch nicht kommen. Ich bin vor kurzem krank geworden und ausserdem haben wir im Theater soviel zu tun. Ich hoffe, Du bist mir nicht böse. Ich hätte Dich so gerne gesehen. Aber mit der Angina kann ich unmöglich von Heidelberg nach Sindelfingen kommen.
Sei mir bitte nicht böse – bis bald
Deine Martina“
Ich wusste nicht was ich fühlen sollte. Auf der einen Seite fand ich es schade, denn ich hätte sie schon gern gesehen. Auf der anderen Seite war ich auch ein bisschen froh. Nicht weil ich sie hasste, sondern weil ich mit den wach gerufenen Erinnerungen nicht zurecht kam. Wenn ich sie getroffen hätte, hätte ich unterschwellig an das Gespräch mit Benjamin und Dirk gedacht.
So ging ich wieder zu Nicky. Aber sie war nicht da. Es war nun eine Angelina aus Lettland im Zimmer C217.
Ich ging zu Diana, die ein Stockwerk drunter war und fragt wo Nicky ist. Sie sagte, dass Nicky ausgestiegen ist. Sie war wieder zurück in die Tschechai gegangen.
Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Tief im Unterbewusstsein war ich sogar ein bisschen froh, dass sie gegangen war. Denn ich hatte für diese Frau Gefühle entwickelt, die man besser nicht für eine Prostituierte entwickeln sollte.
Ich ging wieder nach Hause. Auf der einen Seite war ich sehr traurig. Auf der anderen Seite froh. Denn so konnte es nicht weitergehen. Wenn Nicky hier geblieben wäre, ich wüsste nicht ob ich ihr widerstehen könnte. Vielleicht hätte ich ihr meine Gefühle gestanden und es hätte grosse Probleme gegeben.
Die nächsten Wochen stromerte ich durch Sindelfingen, durch den Park und das Sterncenter und dachte oft über Nicky nach. An ihr freches Lächeln kann ich mich heute noch gut erinnern.
Ich lernte bald Judith kennen. Ich fand sie sehr hübsch. Obwohl sie mit ihrem hübschen Gesicht, ihre hübsche Figur einen guten Eindruck auf mich machte, merkte ich, da fehlte etwas. Mir fehlte das Kumpelhafte, der Humor, die Lockerheit und die Freundschaft von Nicky. Judith war sicherlich eine nette und kluge Frau, aber es fehlte etwas. Ich hoffte, dass dieses Etwas, was mir fehlte, zum Vorschein kommen würde, wenn wir uns besser kannten.
Ich probierte es weiter bei Judith, denn sie war dennoch eine sehr attraktive Frau. Ich lud sie auch zum Essen ein, schickte ihr per E-Mail meine Kurzgeschichten, gab ihr auch Tipps wie sie sich im Klavier spielen verbessern könnte. Obwohl ich von Klavier spielen überhaupt keine Ahnung habe. Ich riet ihr sich Leute zu suchen, die ebenfalls Klavier spielen, um von denen etwas zu lernen. Auf diese Weise hatte ich etwas über das literarische Schreiben gelernt. Und ich dachte, vielleicht funktioniert das auch beim Klavier spielen.
Aber irgendwie klappte es nicht. Ich saß in der Traube neben ihr und ihrer Freundin und spürte, dass sie kein Interesse an mir hatte. Sie saß auf der Bank, hielt ihr Dinkelacker in ihrer rechten Hand und unterhielt sich mit ihrer Freundin über die derzeitige Finanzkrise und andere Dinge. Mir wurde in diesem Augenblick bewußt, dass ich keine Chance bei Judith hatte.
Statt wie früher in Depressionen zu verfallen, erinnerte ich mich an den einen Moment mit Nicky:
„Aber Michael, du bist hier normal. Viele andere Männer sind hier nicht normal, “
Ich erinnerte mich wie sie mit dem Zeigefinger gegen den Kopf tippte, während sie das gesagt hatte.
In diesem Moment bereitete sich in meinem Herzen eine tiefe Zufriedenheit aus. Ich lächelte zaghaft und kurz. Anstatt mich krampfhaft in eine unglückliche Sache zu stürzen wollte ich lieber gehen.
So betrat ich den Rückweg, auf dem meine Erinnerungen in die Vergangenheit geschweift waren. Wenig später lag ich auf meinem Bett, drehte mein Kopf zum Regal, auf dem das Parfümfläschchen und der Schlüsselanhänger waren und flüsterte mit einem Lächeln:“ Wenn du wieder dein Haarkamm suchst, sag mir unbedingt Bescheid. – vielen Dank für alles, Nicky.“ Mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Zufriedenheit schlief ich etwa eine Stunde später ein.