„Fantasierst Du noch oder …?“, ich fand keine Antwort auf die Frage. O. k., da ist eine paysexuelle Neigung in mir. So viel war mir mittlerweile klar. Zu oft hatte ich in der Literatur vom koketten Freudenmädchen gelesen. Zu oft hatte ich im TV die aufreizende Hooker gesehen. Das musste einfach hängenbleiben und zu gären beginnen.
Aber „solche Typen“, das sind doch Loser, hörte ich nicht nur, sondern dachte ich auch selbst inbrünstig. Also ein Loser wollte ich nicht werden, nein! Eine alte Dame mit Promistatus klärte mich und andere Zuschauer einer Talkshow einst auf, dass Männer, welche zu einer Prostituierten gehen, dies nur täten, weil all ihre anderen Versuche, mit Frauen in sexuellen Kontakt zu treten, gescheitert seien. Für diese Männer, so äußerte sich Madame, sei „es“ der letzte Ausweg. Oh ja, da hat sie absolut Recht. Damals konnte ich ihr vehement beipflichten!
So, da lebte ich nun mit dieser paysexuellen Ambivalenz vor mich hin. Plötzlich ein Unfall und damit einhergehend die panische Erkenntnis, dass es ungetane Dinge in meinem Leben gab, die ich bereue, sehr bereue. Ein Stelldichein mit einem Callgirl stand weit oben auf meiner Erkenntnisliste. Zweite Chancen sind rar gesät, weshalb mein unverrückbarer Entschluss nun lautete: ich werde ein Callgirlcaller.
Unvorstellbares folgte. Ich, der unbescholtene Bürger, Kind eines christlichen Elternhauses, Vorbild und Leitwolf, nahm einen großen Anlauf, sprang über meinen eigenen Schatten und tippte erst einmal vorsichtig die Buchstaben N, U, T, T, E und N in die Internetsuchmaschine ein.
Wow, wie viele Angebote ich da fand. Ob es darunter auch ein Freudenmädchen nach meinem Geschmack in der anonymen Großstadt meiner nächsten jobbedingten Tour gab? „Tour d’amour“ – ich musste grinsen. Nach tagelangem Suchen, welches nur durch etwas Essen, Schlaf, Arbeit, Kino, Wochenende und andere Verzögerungen unterbrochen wurde, fand ich die Anzeige für eine Loulou. Sie war jung, lächelte zauberhaft und hatte einen makellos schönen Körper, welchen ich auf mehreren Fotos bewundern konnte. Sie, genau sie musste es sein!
Einen Monat später war es soweit. „Durchziehen oder den Schwanz einziehen?“
„Fantasierst Du noch oder wirst Du echten Sex mit der echten Loulou haben?“
Mein Smartphone in der Hand und tausend Fragen im Kopf (wo die auf einmal alle herkamen?) versank ich immer tiefer im Sessel meines Hotelzimmers. Zwei Ziffern tippte ich ein, zwei Ziffern, welche mich einem Treffen mit Loulou näher brachten. Stopp!
„Soll ich wirklich!?“
„Kann ich wirklich!?“
Neustart: eine Ziffer, zwei Ziffern, mein Puls steigt, drei Ziffern, ich glaub‘, ich hab Fieber, vier Ziffern. Halt! So geht das nicht. Also bestrafte ich mich erst einmal selbst mit minutenlangem Schweigen.
„Die anderen Hotelgäste können doch hören, wen ich jetzt anrufe. Also lasse ich es lieber bleiben.“
Oder doch nicht?
Ich entschied mich für „oder doch nicht“. Schnell noch mal meine Anfrage durchgehen und jetzt aber durchziehen. Eine Ziffer, zwei Ziffern … die Verbindung steht – genauso wie mir der Schweiß auf der Stirn. Mein Gesprächspartner klingt freundlich, beinahe schüchtern. Er sagt mir zu, dass Loulou, die Loulou, deren Fotos ich seit Wochen anschmachte, am gewünschten Abend Zeit für mich hätte. „Danke! Tschüss!“
Was war gerade geschehen!?
Hatte ich wirklich ein Treffen mit einer Prostituierten vereinbart?
Ja. Vor Freude hätte ich tanzen können!
Noch war es aber nicht soweit. Eine Stunde vorher war ein Bestätigungsanruf bei Loulous Agentur vereinbart. Es wurde also ernst, und dieser Ernst lernte nicht laufen, sondern begann mir stichwortartig alle mir bekannten Vorurteile gegenüber Prostituierten zuzuflüstern: Geschlechtskrankheiten, Tausende sind schon über sie rübergerutscht, Zwangsprostitution, Ausbeutung, Loser, Hygienemangel. Und vor allem flüsterte er: „Kannst Du Dir danach noch Dein Spiegelbild ansehen?“
„Abbruch!“, schoss mir durch den Kopf.
Dann war da die Erinnerung an das bereute Ungetane in meinem Leben. Also fasste ich zum Smartphone und tippte eine Ziffer, zwei Ziffern. Stopp!
Jetzt ging das wieder los!
Pünktlichkeit ist eine Tugend, dachte ich, und wenigstens die behalte ich, wenn ich zur vereinbarten Zeit anrufe und das Unaussprechliche, das Tugendlose vollziehe – Sex mit einer Prostituierten. Der Anruf wurde so zu einem Muss. Mein Gesprächspartner versicherte mir, dass Loulou dann und dann an meiner Hotelzimmertür klopfen wird. Ich legte auf und meine Sorgen legten sich ebenfalls. Plötzlich war der Raum erfüllt von unverhohlener Vorfreude. Loulou erschien tatsächlich. Loulou war überaus gepflegt. Loulou war unglaublich selbstbewusst. Vor allem aber brachte mich Loulou an jenem Abend um den Verstand und bescherte mir ein berauschendes Hochgefühl, welches jeder Beschreibung spottet.
Am nächsten Morgen war Loulou verschwunden. Vorsichtig riskierte ich einen Blick in den Spiegel und sah einen entspannten und heiteren Mann, welchem die Frage auf der Zunge lag, weshalb ich das nicht schon viel, viel früher gemacht hatte.