Dr. Heike Melzer, Ärztin, Buchautorin und Psychotherapeutin, bietet Paar- und Sexualtherapie in ihrer Praxis in München an. In ihrem neuen Buch "Scharfstellung - Die neue sexuelle Revolution" diskutiert sie die radikale Veränderung des Sexlebens durch das Internet. Ich sprach mit Heike Melzer über ihr neues Buch, das jetzt auf den Markt kommt.
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Sie beschreiben aus Ihrer Praxis, dass es neue sexuelle Funktionsstörungen gibt, die in Zusammenhang mit dem Internet stehen. Welche sind das?
Es sind alte sexuelle Funktionsstörungen, die heute in einem neuen Gewand daherkommen: waren es früher vorwiegend ältere Männer, so kommen jetzt junge Männer mit Erektionsstörungen, die ratlos mit Viagra vom Urologen ausgestattet meine Praxis aufsuchen. Früher war der vorzeitige Samenerguss ein riesiges Problem, heute ist der verzögerte oder ausbleibende Orgasmus ein zunehmendes Thema. Waren früher eher die Frauen mit sexueller Unlust am Start, so emanzipieren sich heute die Männer. Allerdings ist deren Unlust vorwiegend auf die Partnerin bezogen, nicht generell, denn die Möglichkeiten sich alternativ zu vergnügen sind enorm gestiegen. Die Veränderungen gehen in der Regel mit einem übermäßigen Konsum von sexuellen Superreizen einher: Pornografie, High-Tech-Sex-Toys und ständig wechselnde unverbindliche oder käufliche Partner: sie alle gehen mit Neuigkeit und starken Reizen einher, die uns auf die Dauer unsensibel werden lassen für die natürlichen Reize eines fortwährend gleichbleibenden Partner.
Sie vergleichen Fleischindustrie und käufliche Liebe. Wieso dieser Vergleich und welche Parallelen gibt es?
Käufliche Liebe hat die zwei Extreme: wenn wir Alice Schwarzer glauben, dann seien 90% der Prostituierten unfreiwillig am Start und Opfer von Menschenhandel und Zuhälterei. Glauben wir den Hurenaktivisten, dann ist Sexarbeit ein Job wie jeder andere und nur ein verschwindend kleiner Anteil an Frauen seien hier unfreiwillig am Start. Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, so die Einschätzung der Polizei in Stuttgart. Interessanterweise kann sich keiner der Klienten in meiner Praxis der käufliche Liebe in Anspruch nimmt vorstellen, dass seine eigenen Töchter in diesem Bereich arbeiten. Die Parallelen sind augenscheinlich: Zwischen Schein und Sein bestehen beiderseits gravierende Diskrepanzen, die weitestgehend ausgeblendet werden. Bei dem Konsum des „Frischfleisches“ fällt es schwer sich mit den Schattenseiten beider Gewerbe auseinanderzusetzen, denn diese werden weitestgehend ausgeblendet. Sowohl in der fleischverarbeitenden Industrie als auch in der Prostitution finden sich viele junge Menschen aus den ärmeren EU-Staaten, deren Arbeitsbedingungen eklatante Mängel aufweisen.
Inwieweit hat die Digitalisierung die Sexarbeit und das Kundenverhalten verändert?
Die Anbahnung hat sich weg vom Rotlichtmilieu hinein in die digitalen Welten verschoben. Auf Anbieterseite ist es super einfach geworden innerhalb weniger Minuten ein ansprechendes Profil auf Portalen wie „kaufmich.de“ online zu stellen. Auch Laufhäuser, Sauna-Clubs und Escort-Services informieren mit reichlich Fotomaterial und Informationen über die zur Verfügung stehenden Sexarbeiter. Freier und Prostituierte tauschen sich in Foren aus und können aus der heimischen Komfortzone die Anbahnung stressfrei gestalten.
Welche Auswirkungen hat der Konsum sexueller Dienstleistungen auf die Partnerschaft?
Die wenigsten Partner sind informiert und reagieren, wenn etwas rauskommt, entsprechend entsetzt. Deshalb hüllen sich sowohl Freier als auch Prostituierte in Schweigen. Partner, die Verdacht schöpfen rüsten heute technisch kräftig auf, denn die Technik, welche die Anbahnung ermöglicht wandelt sich dann schnell zum Fallstrick: GPS-Tracking, SIM-Kartenausleser, verdächtige Online-Verläufe und das Aufdecken geheimer Postfächer und Account-Daten sind gängige Methoden, um sich Klarheit zu verschaffen. Ganz im Vordergrund stehen bei den Partnern Sorge um gesundheitliche Risiken durch riskante Sexualpraktiken, aber auch finanzielle Untreue und die Tatsache, dass die Hürde sexuelle Dienstleistungen zu konsumieren sehr einfach in Anspruch genommen werden können und damit eine hohe Widerholungsgefahr besteht. Besonders brisant wird es, wenn erklärungsbedürftige Infekte mit HPV-Viren oder Feigwarzen den Partner aufhören lassen. So mache Partnerschaft übersteht die Aufdeckung nicht, denn bei Vertragsbrüchigkeit wird schnell das Fundament der Beziehung torpediert.
Welche Auswirkungen hat früher Pornokonsum auf die Entwicklung von Kindern?
Wir bewegen uns hier aktuell in einem weltweiten Feldversuch ohne Ethikkommission. Kinder kommen in der Regel mit elf Jahren erstmalig in Kontakt mit Pornografie. Dem Zeitpunkt des Überganges von der Grundschule in die Sekundarstufe 1. Wir wissen mittlerweile, dass Pornografie einen suchtartigen Effekt hat und unsere sexuellen Skripte, unser Wollen und Können beeinflusst. Die WHO hat zwanghafte sexuelle Störungen im Juli 2018 in den Katalog psychischer Erkrankungen mit aufgenommen.
Von anderen Süchten wissen wir, dass in der Pubertät die Grundlagen für spätere Süchte angelegt werden. Die oben beschriebenen sexuellen Funktionsstörungen betreffen ganz besonders junge Männer. Zudem geht die Schere zwischen Unberührten, die sich im Netz der Möglichkeiten und denen die sich durch die Betten tindern und mit Mitte 20 schon auf dreistellige Anzahl an Sexualpartner schauen, immer weiter auseinander. Pornoinduzierte Fetische nehmen auch rasant zu. Eltern und die Schule hinken in der Aufklärung hinterher und das Bewusstsein gesundheitsschädlicher Auswirkungen fängt gerade erst an in der Gesellschaft zu entstehen.
Welche Möglichkeiten für Sexualität und Partnerschaft bringt das Internet mit sich? Schließlich kann man ja hier von neuen Freiheiten sprechen.
Wenn man Sexualität in die drei Bereiche Fortpflanzung, Bindung (Liebe), Abenteuer (Triebe) unterteilt, dann hat sich in den 68er Jahren durch Einführung der Pille und Straffreiheit der Abtreibung das Thema Fortpflanzung sicher von der Sexualität getrennt. Die neue Freiheit heute besteht darin, dass sich unsere Triebe autonom versorgen können. Dazu bedarf es keiner festen Partnerschaft mehr. Dies bringt jede Menge Chancen und Möglichkeiten und fühlt sich auf den ersten Blick sehr frei und gut an. Sexualität hat sich dabei von einer einstigen Mangelware zu einem Massenkonsumprodukt entwickelt. Wir können Sex über starke virtuelle pornografischen Angebote und High-Tech-Sex-Toys und die diversen Portale für unverbindlichen und käuflichen Sex in Eigenregie ohne Limit konsumieren. Viel einfacher als dies früher möglich war. Mit dieser neuen Freiheit müssen wir lernen verantwortlich umzugehen, damit wir zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern dieser Entwicklung zählen.
Vielen Dank Frau Dr. Melzer für das Interview!
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Written by Susi
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